Schattenfluchten

„The Andersen Project“ von Robert Lepage, eine One-Man-Showzu Hans Christian Andersen, ist zum ersten Mal in Deutschland zu sehen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Es war schon immer die dunkle Seite im Leben des Märchenerzählers Hans Christian Andersen, die spätere Künstler an ihm interessiert hat: Anfang der 80er-Jahre erschien sein Märchen vom hässlichen jungen Entlein mit einem Vorwort von P.O. Enquist und Illustrationen von Andrzej Ploski, der die Gestalt des langnasigen und langbeinigen Dichters selbst in das untergeschobene Entenei packte. Wer immer sich diese Illustrationen angeschaut hatte, wusste um all die Kränkungen, die der Dichter, der sich als Künstler nicht anerkannt fühlte und als Mann zurückgestoßen wusste, erlitten hat.

2005 war der 200. Geburtstag von Hans Christian Andersen Anlass für verschiedene große Theaterprojekte: Oft standen dabei der Gegensatz zwischen Werk und Biografie und das Geheimnis seiner verborgenen und unterdrückten (Homo-)Sexualität im Mittelpunkt. Was daran allerdings erstaunt, ist, dass bisher noch jeder Regisseur dies als seine ganz persönliche Ausgrabung und Lesart gegen die Konvention ausgibt. Das war in der anarchistisch verschwenderischen „Meine Schneekönigin“ von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne so, das ist so in „The Andersen Project“ des kanadischen Theaterstars Robert Lepage, das seit seiner Uraufführung in Kopenhagen im Mai 2005 um die Welt tourt und jetzt auf Einladung der Berliner Festspiele in Berlin gastiert, zum ersten Mal in Deutschland.

Der schönste Moment in Lepages „The Andersen Project“ ist gekommen, wenn der Direktor der Pariser Oper, den man eben noch recht verzweifelt in der Kabine eines Pornokinos zwischen seinem Handy und seinem Schwanz um die Setzung von Prioritäten ringen sah, am Bett seiner kleiner Tochter niederkniet und ihr das Märchen vom „Schatten“ vorliest: Wie der Schatten, den ein Mann einst ausschickte, um ein Geheimnis auszukundschaften, seinem Schattenwerfer davonläuft und ihm schließlich sein Leben stiehlt. Tatsächlich kann Lepage, der alle Rollen seines Stücks selbst spielt, hier mit seinem Schatten das Märchen nicht nur erzählen, sondern mit simpelsten Mitteln aufführen. Und man weiß: Der Operndirektor selbst ist der Mann, der seinen Schatten fürchtet.

Robert Lepage hat den Ruf eines großen Theatermagiers, der sich in Quebec ein eigenes Theater aufgebaut hat und im internationalen Festspielbetrieb mit großen Produktionen betreut wird. Genau dort siedelt er die Geschichte seines „The Andersen Project“ an: Es ist zunächst einmal eine breit ausgepinselte Satire auf das Geschäft von internationalen Koproduktionen, in denen gelangweilte Manager Themen, Autoren und andere Künstler aus diplomatischen und ökonomischen Erwägungen wie Schachfiguren hin und her schieben. Neben dem Operndirektor ist ein Rockpoet aus Quebec die zweite Hauptfigur, der mit einem Libretto für ein Andersen-Märchen allein aus Quoten-Gründen beauftragt wird und irgendwann sein ungelesenes Manuskript findet.

Zwischen den beiden Männern ist aufgeteilt, was Lepage an Andersen interessiert hat: Beide sind Einsame, die an zerbrochenen Beziehungen knabbern. Der eine versteckt sein Begehren in dunklen Kabinen – anscheinend das Lieblingsbild von Lepage –; der andere bewahrt Haltung vor dem Zynismus des Kunstbetriebs und trägt die Missachtung seiner Kunst mit Gelassenheit. Eine drogen- und sexsüchtige Hündin unterstützt ihn dabei.

Diese Hündin, die selbst nicht zu sehen ist, wohl aber die Bewegungen, mit denen sie an der Leine zerrt, gehört bald zu den Lieblingen des Publikums. Schon weil man jetzt rauskriegen möchte, wie funktioniert denn das? Denn die Inszenierung lebt neben dem satirischen Text (in Englisch und Französisch) von der Eleganz, mit der Lepage seine Theatertrickkiste vorführt, die viele schnelle Rollen-, Kostüm- und Bühnenbildwechsel ermöglicht. Er, der seit zehn Jahren auch als Filmemacher arbeitet, hat eine besondere Perfektion darin entwickelt, wie Filmbilder und dreidimensionale Objekte als Kürzel des Scheins und der wirklichen Welt ineinander greifen. Tja. Für einen Alleinunterhalter auf der Bühne mag das von höchster Raffinesse sein und wirkt dann doch relativ schnell vor allem wie eine kunstgewerbliche Spitzenleistung. Zumal gemessen an dem, was Lepage eben auch allein mit seinem Schatten über das Leben der Bilder und das Leiden der Körper erzählen kann, wirkt vieles dann doch wie ein unnötiges Chichi.

Überhaupt: Es ist wohl doch etwas zu viel Lepage und zu wenig Andersen in dieser One-Man-Show. Zu viel von dem, was die Märchen des Dichters, kunstvoll um einen verschwiegenen Kern mäandernd, gerade nicht ausbuchstabieren wollen, und zu wenig von dem, welche Form von Haltung die Märchen gegenüber der Wirklichkeit möglich gemacht haben. Zu viel Begeisterung über das Ausplaudern von dunklen Geheimnissen und den eigenen Mut am Tabubruch und zu wenig Interesse an den ästhetischen Strategien einer vergangenen Zeit. Nicht zuletzt sorgt für eine kleine Spur von Peinlichkeit, wenn sich ein so erfolgreicher Künstler mit den Nöten des Verkannten identifiziert.