Hinter ihrem Horizont geht’s weiter

Eine bürgerliche Wattewelt in Südafrika: Die Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer nennt ihren neuen Roman „Fang an zu leben“ und vergisst dabei, das Leben zu beschreiben

Manche Menschen gleiten ohne nennenswerte Schrammen durchs Leben, weil sie in Watte gepackt zu sein scheinen. Zu ihnen gehören die Figuren in Nadine Gordimers neuem Roman „Fang an zu leben“. Die Nobelpreisträgerin, Südafrikas berühmteste Schriftstellerin, schreibt oft über solche Menschen. Weiß in Südafrika, der oberen Mittelschicht zugehörig, finanziell abgesichert und mit Traumjobs versehen, kämpfen sie mit der Unbill, die das Leben mit sich bringen kann.

Paul Bannermann, die Hauptfigur ihres neuen Romans, bekommt Schilddrüsenkrebs. Das ist tragisch, besonders mit Mitte dreißig, aber, seltsam!, in seinem Fall offensichtlich so schlimm nun auch wieder nicht. Er verbringt eine Zeit im Krankenhaus, von der die Autorin kaum erzählt, dann muss er zwecks Quarantäne für zwei Wochen zu den Eltern, denn er wurde radioaktiv bestrahlt und strahlt nun selbst. Anschließend ist wieder alles im Lot. Gordimer erspart ihm gnädigerweise Untersuchungen, Tabletten, all die physischen und psychischen Nachwehen, mit denen Krebspatienten für gewöhnlich zu ringen haben.

Stattdessen reißt die Autorin andere Probleme an. In der Quarantäne ist Paul dahintergekommen, dass er seine Frau zwar toll findet, mit ihrem Job in der Führungsetage einer großen PR-Agentur aber Schwierigkeiten hat – sind ihre Kunden doch diejenigen, gegen die er selbst der Umwelt zuliebe kämpft. Er ist Ökologe. Diese Spannung in der Ehe mündet nicht in unschöne Diskussionen. Sie wird ausgehalten.

Die wirklichen Konflikte spielen sich allerdings erst jenseits der weißen Mittelschicht ab. Wie vereinzelte Stecknadeln hat sie Gordimer in die Wattewelt ihrer Protagonisten gestreut: Die Apartheid ist lang schon vorbei, aber immer noch ist die freundliche „Dienerin, jetzt Haushaltshilfe“ schwarz. So wie der Dieb, der nachts an der Alarmanlage und dem Hund von Pauls Eltern scheitert. Und das kleine Mädchen, das Pauls Mutter in Pflege nimmt. Seit irgendein gieriges Glied ihren Körper aufriss, ist es HIV-positiv. Weswegen Benni es nicht gerne sieht, wenn sie mit ihrem Sohn spielt. Nadine Gordimer malt in Pastellfarben das Leben von Paul und seiner Familie, das sich in getragenem, gleichmäßigem Tempo abspielt. Nur ab und an blitzt der Schrecken der Wirklichkeit in ihren wattierten Schutzraum. Und so steht am Ende, wie zu erwarten, der Sieg über Krankheit und Umweltsünden, die hohe Feier der Schöpfung, die Geburt des Sohnes.

Nadine Gordimer betrachtet ihre Figuren aus großer Distanz. Weit weg, ganz hinten am Horizont der Figuren, spielen sich Leid und Katastrophen, spielt sich das Leben ab, während die Figuren selbst auf leisen Sohlen an sich vorbeizuschleichen scheinen. Als Leser bekommt man nur die Oberfläche der Figuren zu sehen; sie ist, ihrer Klasse entsprechend, stets gefasst, kontrolliert und sauber. Nichts tut hier weh, nichts ist wichtig genug, um dafür Schmerzen zu riskieren, nie geht der Verstand verloren, wird geschrien, getobt, gefühlt. Anstelle des Streits steht das Schweigen. Den ja durchaus stattfindenden Katastrophen begegnet Pauls Familie mit lakonischer Gleichgültigkeit, die Gordimer in Sätzen einfängt, die schweben zu scheinen, ohne Anfang und Ende, leise und diskret. „Was ihn an der Kehle packte. Schilddrüsenkrebs“ ist so ein Satz, oder auch: „Der letzte Mann, der in ihr war. Adrian.“

Nadine Gordimer schiebt eine große Entfernung zwischen die Leser und ihre Figuren. Es bleiben Folien, Hochglanzbilder ohne viel Hintergrund. Der Leser selbst soll die von der Autorin angedeuteten Konflikte, die kaum sichtbaren Risse im schönen Bild weiterdenken, weiterfantasieren. „Fang an zu leben“ verlangt einem so erhebliche Eigenleistung ab. Etwas mühsam ist’s schon, die Watte des Lebens und dieses Romans zu durchdringen. CORNELIA GELLRICH

Nadine Gordimer: „Fang an zu leben“. Aus dem Englischen von Malte Friedrich. Berlin Verlag, Berlin 2006, 217 Seiten, 19,90 Euro