Toben auf dem Weg nach oben

In der Hiphop-Kultur wird Gewalt als harter Straßenrealismus gefeiert. Tatsächliche Ausschreitungen wie zuletzt in Kreuzberg sind selten. Dass die Lage auch eskalieren könnte, hängt für Rap-Star Sido von immer ghettoähnlicheren Verhältnissen ab

Manche der Jugendlichen, so Sido, „wissen jetzt, sie können die Polizei schlagen, die haben Blut geleckt“

VON THOMAS WINKLER

Unlängst war Marcus Staiger zu einer Anhörung bei der Berliner Senatsverwaltung geladen. Der Anlass: die Randale im Wrangelkiez, als Zivilpolizisten aneinander gerieten mit einigen Dutzend jugendlichen Migranten. Was genau geschah an diesem 14. November, ist immer noch nicht geklärt. Aber seither diskutiert die Republik die Ghettoisierung ganzer Viertel in ihren Großstädten. Von Mob war die Rede, runde Tische wurden gebildet. Und die Meinung des inoffiziellen „Ghettobeauftragten“, der ein Hiphop-Label betreibt, war mal wieder gefragt. „Wenn ich durch die vielen Interviews wenigstens mehr Platten verkaufen würde“, jammert Staiger. Aber RoyalBunker, seine in einem Souterrain in der Kreuzberger Falckensteinstraße beheimatete Plattenfirma, ist immer noch ein Kleinlabel. Und doch mehr als das, nämlich jahrelang Anlaufpunkt für Jugendliche. Erst unlängst hat man die Chill-out-Zone in den hinteren Bereich der Ladenwohnung verlegt, um sich konzentrierter den zuletzt in der ganzen Musikindustrie schleppender laufenden Geschäften widmen zu können. Bei RoyalBunker arbeiten schon traditionell – wie sonst in Kreuzberg nur sehr selten – Migranten und Weißbrote miteinander.

Die Randale hat nur wenige hundert Meter vom Büro entfernt stattgefunden. Überrascht hat ihn der Zwischenfall nicht, sagt Staiger, „aber ohne die Presseaufregung wäre das nach zwei Tagen wieder vergessen gewesen“. Schließlich sei die Gegend „im Vergleich zu Harlem oder Sankt Petersburg zwar harmlos, im Vergleich zu Zehlendorf aber definitiv ein Ghetto, weil die Aufstiegsmöglichkeiten fehlen“. Der Vorfall sei auch ein Ausdruck dessen, dass sich Kreuzberg wandelt, Unternehmen aus der Medienbranche sich ansiedeln und die bestehenden Ungleichheiten und Diskriminierungen deutlicher zutage treten. „Ich bin doch der einzige aus der Branche, der mal einen Immigranten ohne Schulabschluss als Praktikanten einstellt“, sagt Staiger.

Trotzdem bekommt der „mittelständische Unternehmer“, wie er sich selbst ironisch nennt, schon mal Prügel angedroht. Das gehört dazu, wenn man ein Hiphop-Label besitzt, dessen Künstler dazu neigen, die rappende Konkurrenz zu beleidigen. Oder: zu dissen, wie es im Branchenjargon heißt. Das Maulheldentum fußt auf dem Battle-Gedanken, nach dem man im Hiphop Konflikte regelt – als Rapper mit der schnelleren Zunge, als B-Boy mit verwegeneren Tanzschritten und als Writer mit den großflächigeren Graffiti. Könnte es sein, dass einige falsch verstanden haben, dass die Übertreibung zum Text gehört, dass auch Rapper nur eine Rolle einnehmen? „Wir sind kein Boxverein, wir haben immer gesagt: Das ist Rap“, sagt Staiger. Und geht doch regelmäßig im Fitness-Studio trainieren. Man sollte in Kreuzberg zumindest den Eindruck erwecken, sich wehren zu können.

„Die meisten lassen sich ja nicht richtig tief ein auf die Kultur“, sagt er, „da wechseln sich türkischer Pop ab mit Tupac und 50 Cent.“ Zudem korrespondieren die Werte des konservativen Islam bisweilen frappierend mit denen, die im Hiphop – wenngleich nur spielerisch – vermittelt werden: „Die Stellung der Frau, die Beziehung zu Homosexuellen, die Glorifizierung des Gangster-Lebens, das prägt das Wertesystem der Kids. Aber ich behaupte mal, dass Zehlendorfer Jugendliche dafür genauso anfällig sind wie die aus Kreuzberg.“ So dient deutscher Gangsta-Rap, vor allem die so genannte Berliner Härte, immer noch vor allem einem Zweck: die eigenen Eltern zu erschrecken. Und das funktioniert mit gläubigen Muslimen ebenso gut wie mit Christen.

Ist deshalb mehr Polizei gefragt? Offenbar nicht. Zehn Tage nach dem Vorfall in der Wrangelstraße wurden neue Leitlinien der Direktion 5 für den zuständigen Polizei-Abschnitt 53 ausgegeben. Darin heißt es: „Die polizeilichen Maßnahmen bleiben, soweit Lageveränderungen dies nicht zwingend erfordern, auf dem für diesen Bereich typischen Niveau.“ Die konkrete Bedrohung war am 14. November doch eher die Ausnahme.

Symbolisch entert das Böse freilich regelmäßig die Kinderzimmer der Nation. Als „The Dome“ kürzlich zehnjähriges Jubiläum feierte, hieß der Stargast Bushido: Gleich zwei Songs, eine Premiere in Teenies liebster Musiksendung, durfte der Berliner Gangsta-Rapper vortragen. In dem momentan hoch in den deutschen Charts geführten „Sonnenbank Flavour“ reiht der Deutsch-Tunesier Schlagworte aneinander: Massenmord, Schutzgeld, Taliban, Araber, Terrorist, Faustschlag, Nutten, Hurensohn, Lynchmob, Dynamit. Nur ein Auszug, aber eine fast vollständige Liste dessen, was die bundesrepublikanische Mehrheitsgesellschaft derzeit so in Unruhe versetzt.

Bushido spielt mit dieser diffusen Angst, mit ihr verkauft er Platten. Die Randale im Wrangelkiez ist da ein Kitzel aus der Realität, der die Fantasie weiter antreibt. Auch wenn Bushido in Interviews freimütig zugibt, das klischierte Zerrbild vom bösen Ausländer zur Profitmaximierung bewusst zu bedienen: Niemand prägt momentan so nachhaltig das aktuelle Bild von Hiphop in der Öffentlichkeit.

Bushidos Konkurrent sitzt im schickeren Teil Kreuzbergs. Nicht in 36, sondern im alten Postleitzahlenbezirk 61. Hier, in einer Fabriketage, residiert Aggro Berlin, Deutschlands verschrienste Plattenfirma. Bushido hat früher dort veröffentlicht, bevor er zum Major wechselte, heute ist Sido das Aushängeschild, man hat sich öffentlich und werbewirksam gestritten. „Viele Rapper sind Schauspieler“, sagt er, ohne Namen zu nennen. In seinen Texten beschreibt Sido eine Welt aus Gewalt und Drogen, schnellem Sex und schnelleren Autos. Mit Erfolg: Der 30-Jährige sitzt vor einer Wand, die mit Bravo-Seiten tapeziert ist, alles Texte über Aggro-Rapper.

Heute macht Sido eigentlich Werbung für sein neues Album „Ich“. Aber ganz nebenbei findet er auch, er habe Recht behalten. „Ich hab schon vor drei Jahren gesagt, dass so etwas passieren kann“, sagt er mit Blick auf die Wrangel-Randale, „da haben alle nur gelächelt. Aber es gibt Gegenden, da sieht’s scheiße aus, da muss sich jemand kümmern, sonst explodiert da was.“ Und demnächst, glaubt Sido, auch noch öfter: „Die wissen jetzt, sie können die Polizei schlagen, die haben Blut geleckt.“ Die, das sind jene, die von dieser Gesellschaft aussortiert werden. „Und das ist für mich Ghetto“, sagt Sido, während er am Joint zieht, „Leute werden ausgesondert.“

Nebenan wechselt sich Gelächter ab mit groben Scherzen und einem dumpfen Schlaggeräusch. Zur Ausstattung bei Aggro gehört auch ein Punching Ball, an dem sich nicht nur Sido gern abreagiert. Hiphop allerdings, meint er, ist nur ein begleitendes Symptom der Konflikte in Kreuzberg oder dem Märkischen Viertel, der abgekürzt „MV“ genannten Sozialbausiedlung im Norden Berlins, aus der Sido stammt: „Die Leute sind schon so, bevor sie Hiphop hören. Das Ghetto gab es schon lange, bevor es Hiphop gab.“

Das MV schimpften seine Bewohner bereits vor mehr als zwanzig Jahren liebevoll „Ghetto“. Zu einer Zeit also, als die neuen, komfortablen Wohnungen dort durchaus begehrt waren, ein Immigrant noch weitgehend unhinterfragt ein Gastarbeiter und die Parallelgesellschaft nicht mal eine ferne Ahnung war. Heute, behauptet Sido, sei das MV längst ein rechtsfreier Raum: „Da ruft keiner die Polizei, da regelt man alles untereinander, deshalb ist die Kriminalitätsstatistik so niedrig.“ Die gesellschaftlichen Verlierer würden in die unattraktiven Außenbezirke verbannt, systematisch und „wie Ungeziefer“, paraphrasiert Sido den französischen Innenminister Sarkozy. Kreuzberg allerdings sei von französischen Verhältnissen weit entfernt: „Das ist doch Innenstadt.“

Zurück in 36. Samstagabend, im Café des Kinder-, Jugend- und Kulturzentrums Naunynritze wird der Handyfilmpreis vergeben. Langes Buffet, gepflegte Abendgarderobe, großer Bahnhof. Über den Hinterhof, dessen Backsteinwände übersäht sind mit Graffiti, gelangt man zu einer kleinen Turnhalle: PVC auf dem Boden, ein DJ legt auf, ein Dutzend Breaker und noch mal doppelt so viele Schaulustige treffen sich zur „Circle Session“. Kopftücher und Strickmützen, Baggy-Jeans und Jogginghosen, Deutsche und Türken, Latinos und Asiaten. Sie alle üben ihre akrobatischen Sprünge: Air-Twists und Windmills, Flares und Headspins. Vor allem Jungs, aber auch zwei, drei Mädchen trauen sich auf die Tanzfläche. Dezentes Klatschen, wenn die neuesten Tricks gelingen.

José Sepulveda-Parraguez leitet Breakdance-Kurse in der Naunynritze. Für Kinder und Jugendliche, auch Ältere. Die Klientel ist multikulturell, sagt der gebürtige Chilene, und sie ist ein Spektrum der Kreuzberger Bevölkerung. Die Gangsta-Rapper sind Vorbilder, ihre derbe Sprache ist längst Alltag geworden. Viele der kleinen Dealer, die heute an den Ecken stehen und Gras verticken, waren früher einmal in seinen Kursen, erzählt Sepulveda. Andere, für die ein ähnliches Schicksal vorgesehen war, denen hat das Breaken eine Perspektive gegeben, die haben das Tanzen zum Beruf gemacht. „Ob mit Rap oder Breaken, die toben sich aus“, sagt Sepulveda, der seit 23 Jahren tanzt, „die Gewalt, die sich angestaut hat, die muss raus.“

Irgendwann spielt der DJ „Billy Jean“. Während die ersten ihre Sachen packen, verweigert Michael Jackson in dem Song die Anerkennung einer Vaterschaft. Sido klagt auf seinem neuen Album, dass er viel zu früh einen Sohn gezeugt hat, um den er sich nie kümmerte. Die Zeiten ändern sich. Die Randale, das hatte Sido noch gesagt, die Spannungen im Kiez, „das ist kein Produkt von Hiphop, sondern Hiphop ist nur das Produkt der Verhältnisse“. Aber wenn manche Viertel weiter sich selbst überlassen werden, „dann haben wir in drei Jahren Verhältnisse wie in den Banlieus von Paris“.