Klassenrassistische Mission

Da hilft nur Feuer: Augusto Pinochets Gebeine wären vor Rache nicht sicher

Bei einem meiner letzten Aufenthalte in Chile wurde mir mittags eine Brise Koks gereicht. Wir saßen bei einem chronisch von Verarmung bedrohten Bildhauer in einer eher weniger guten Gegend der Hauptstadt Santiago. Der Ehrengast unserer kleinen Runde fuhr im Range Rover vor. Bis vor kurzem war er der Verkaufsmanager eines transnational operierenden Konzerns in Chile gewesen. Der ältere Herr sprach ausgezeichnetes Englisch und schwärmte für Old Europe. Ich lobte meinerseits brav die Entwicklung im wieder demokratischen Chile, konnte mir dabei allerdings einen kleinen Seitenhieb auf das spärliche öffentliche Kulturleben nicht verkneifen (wir waren gerade noch in Argentinien in der brodelnden Metropole Buenos Aires gewesen).

Ob’s an der Hitze und am bereits reichlich konsumierten Pisco-Cola lag? Jedenfalls stimmte dies den chilenischen Manager mit dem klingenden britischen Namen traurig. Er erzählte, welche Mühe seine Vorfahren gehabt hatten, als sie das schmale Land am Fuße der Anden einst kolonisierten. Der Erfolg sei, wie man auf den Straßen Santiagos jederzeit beobachten könne, kulturell sehr bescheiden geblieben. Die Ureinwohner, die Mapuche-Indianer, hätten bei Ankunft seiner Vorfahren keine zwei Worte sprechen können, von Alphabet oder grammatikalischer Logik also keine Spur. Diese genetische Konstante blockiere den Fortschritt Chiles bis heute. Die Mischung aus koksender Libertinage und arroganter Menschenverachtung schien ihm selbstverständlich für unsere Runde. Dass der gastgebende Bildhauer unübersehbar nicht rein europäisch war, schien ihm gleichgültig.

Salvador Allende und die Unidad Popular wollten in den 1970er-Jahren das einem Ständestaat gleichende Erbe der Kolonialherrschaft Chiles reformieren. Der Arzt Allende repräsentierte ein Bündnis aus Arbeitern und Bauern, dass auch indigen geprägt war. Er selber gehörte zur intellektuellen Minderheit der „weißen“ Mittelschicht, galt als ein Überläufer. Das 1973 gegen ihn putschende „weiße“ Mittel- und Oberschichtenchile verzieh ihm dies nie. Und ihr christlich-europäisch geprägter Führer Augusto Pinochet blieb bis zuletzt von seiner klassenrassistischen Mission überzeugt. Andersdenkende wurden auf alle erdenkliche Arten gefoltert, von speziell trainierten Hunden vergewaltigt, die Leichname ins Meer geworfen oder in der Wüste verscharrt. Die Familie Pinochet tut gut daran, den toten General nun einzuäschern. Seine Gebeine wären vor Rache nicht sicher.

Die verbotene (Arbeiter-)Opposition blieb während der Diktatur aktiv. Künstler verteilten in Performance-Aktionen Milch an die Armen oder ließen Flugblätter über Santiago abwerfen. Gegen das gnadenlose Regime halfen oft nur ironisierende Mittel. Nach seiner Rückkehr aus London (2000) musste Pinochet die Satire neu gegründeter Zeitschriften wie The Clinic ertragen. Oder Schriftsteller wie Pedro Lemebel, eine „Tunte der Apokalypse“, widmete ihm deftige Romane (dt. „Träume aus Plüsch“, 2004). Pinochets Ableben dürfte die Zersetzung der alten gesellschaftlichen Moral beschleunigen. Rechtsstaatlichkeit lässt sich nicht auf wirtschaftliche Vorgänge begrenzen, die Strafverfahren gegen Verbrechen der Diktatur werden sich ausdehnen. Die vielen Basiskämpfe, vor allem auch der Mapuches, künden von einer neu entstandenen Bürgerrechtsbewegung. Die Oberschicht und ihre Manager werden dies bald einmal zur Kenntnis nehmen und die Gesellschaftsmehrheit stärker partizipieren lassen, oder sie riskieren bolivarische Entwicklungen. ANDREAS FANIZADEH

Andreas Fanizadeh, Eva-Christina Meier: „Chile International. Kunst, Existenz, Multitude“. ID Verlag 2005