Gegen die Scheißruhe in der Stadt

Früher, als ihr denkt: Sonic Youth aka „Sonic“ spielten etwas altersmilde, aber immer noch cool im Postbahnhof

Das hätte man nicht lesen sollen. Im Pizza-Imbiss Oranien-/Ecke Adalbertstraße wollte man eigentlich nur schnell zwei Mini runterschlingen. Hektisch und aufgeregt (Schon Viertel nach acht! Einziges Deutschland-Konzert! Ewig ausverkauft! Du selber auf der Gästeliste! Keinen mitbringen, da viel zu exklusiv!) blättert man durch den Tip. Konzertanfangszeit 21 Uhr. Sofort kaut man langsamer und beobachtet, wie zwei schicke Araber Weihnachtseinkaufsplastiktüten aus dem Kofferraum ihres schwarzen Mercedes hieven.

Auf der Rampe vorm Ostbahnhof dann böse Ahnungen: Da weht ein langsam lauter werdender Hall von Gitarren aus dem Postbahnhof. J. Mascis, der wahrscheinlich auch nicht mehr so junge Dinosaurier (hah!), klingt heute aber sehr nach Sonic Youth. An der Kasse dann traurige Gewissheit: Das seien schon „Sonic“, zweites Stück. Eigentlich nur konsequent, den Bandnamen zu verkürzen, wenn man dem aus halb Deutschland (Düsseldorf! Hamburg!) anreisenden Publikum Teile des Konzerts durch Überpünktlichkeit – es ist kurz nach halb neun – vorenthält. Hier könnte sogar Mister Plan-und-Spar Mehdorn noch dazulernen. Auf jeden Fall können sich später nur Streber darüber streiten, wie viele Dinosaur-Jr.-Stücke J. Mascis schon vor acht gespielt hat.

Man selbst schreibt schon quasi Briefe an die lieben Veranstalter: Seid doch bitte so ehrlich und schreibt auf die Plakate: „19 Uhr Konzert, damit danach Fritz-Club-Dorfdisko sein kann, ohne dass die beiden Publika kollidieren.“ Gleichzeitig erinnert man sich mit schaurigem Grausen an ein Konzert von Sonic Youth Mitte der Achtziger in Amsterdam. Das hatte ich mir mangels Karte mit dem Ohr an eine Seitentür des Melkweg gepresst von draußen angehört. Größere Sehnsucht nach Kim Gordon war nie.

Nun zur sogenannten Gegenwart. Ja, sie sind immer noch cool. Vielleicht ein wenig, ähm, balladesker als früher. Ein klein bisschen altersmilde. Weniger bedrohlich. Aber dann machen sie, als bedürfte es keiner Anstrengung, außer sich eine der unzähligen Gitarren von hinten nach vorne zu holen, diese Geräusche, diesen hellweißen Lärm, der in mäandernden Flächen über dich kommt. Der dich weg von der Theke saugt. Der dich wünschen lässt, eine verdammte Leiter dabei zu haben, um dich direkt vor die von der Decke hängenden Boxen zu stellen, bis dich endlich der finale Hörsturz in die vollständige Seligkeit wegträgt. Du willst die unsichtbare Lärmschutzwand einreißen. Du verstehst plötzlich, dass dein Freund sich wirklich wünscht, direkt am Kottbusser Damm zu wohnen. Um nachts, wenn die Scheißruhe in der Stadt nicht mehr auszuhalten ist, am offenen Fenster auf das Ende des Lkw-Sonntagsfahrverbots zu warten. Am besten bei Regen, dann ist es lauter.

Kim Gordon rudert bedächtig wie eine Schwimmerin mit den Armen, wenn sie ihren Bass nicht um hat. In diesen Momenten wirkt sie noch „freier“, als man es sich eh schon zusammenimaginiert, manchmal auch einfach wie die Sängerin einer Band. „Hey you, Deutschland, dudes, chicks!“ Wie gut, dass die USA keine Art Goethe-Institut haben, sonst wären Sonic Youth vielleicht doch, wie die Neubauten, ihrem coolen Mythos in die Falle gegangen.

Nach etwas über einer Stunde ist abrupt Ende. Einige gehen enttäuscht. Die meisten anderen pfeifen und grölen. Man glaubt: Gleich wird der Saal zerlegt. Und dann kommen sie nach langen Minuten tatsächlich wieder, spielen „Goo“. Viele tanzen wie zum letzten Gefecht. Thurston Moore macht beim Abgang das Victoryzeichen und dann den Daumen hoch fürs Publikum. Hoffentlich hat sich die Fritz-Disko unten vom Lärm gestört gefühlt. ANDREAS BECKER