Ein Schweineleben

Beim Konzert in Berlin war Morrissey noch immer ein Meister der Rhetorik und des Ätzens, aber auch der Hohelieder auf einsames Liebessehnen

von KIRSTEN RIESSELMANN

Dieser Typ im Anzug, mit der roten Krawatte und der stilechten Tolle, der ist vielleicht als einziger ein bisschen enttäuscht nach Hause gegangen. Hatte er doch extra ein Schild gebastelt, auf dem stand: „There Is A Light That Never Goes Out“. Er hat es hochgehalten, fast zwei Stunden lang. Aber der Meister hat ihm den Gefallen nicht getan – und sich damit das „pars pro toto“ seiner Zeit mit den Smiths gespart. 1982 bis 1987 sind lange vorbei, Myriaden von Pubertäten wurden seither weniger einsam gemacht. Statt zu jammern ist Morrissey, nachdem sein Heimatland ihn verstieß, nach Rom gezogen und hat mit den letzten beiden Soloplatten ein glänzendes Comeback hingelegt. Immer noch ist er Stilgott, ein Popgroßereignis. In Berlin am Sonntagabend eine ausverkaufte Arena. Eine generationenübergreifende Konsenssache. Und eine heißlaufende Signifikanzmaschine. Bei wem ist man sonst so konzentriert auf eventuelle Zeichen, um alles als Statement zu begreifen, alles interpretieren zu wollen. Jedes Fitzelchen kann wichtig sein, Inszenierungsdetails werden rasant umgelegt auf die Frage: Welche Subjektivitätsstufe hat der Meister erreicht? Was überzieht er mit Empathie, was mit Ätze? Was macht er einem vor in Sachen Ästhetik der Existenz? Kurz: Ist er immer noch eine coole Sau?

Bevor er auf die Bühne kommt, laufen Filmschnipsel – James Dean in „Jenseits von Eden“, Swingbands in Mod-Anzügen –, auf der Bassdrum klebt ein Foto eines barbrüstigen Vespafahrers. Okay, der Referenzrahmen Fifties hat für den Meister noch Gültigkeit. Dann wird ein riesenhaftes Foto von Pier Paolo Pasolini auf die Bühnenrückwand projiziert: Mit todesernstem Weitblick steht der vor dem Monte Testaccio in Rom, diesem ehemaligen Müllberg im Schlachthofviertel, dessen nackte Kuppe mit einem Gipfelkreuz bestückt ist. Pasolini, der Filmemacher und Poet, der den Faschismus analysierte und die Unmöglichkeit funktionierender Zwischenmenschlichkeit, der aufgrund seiner Homosexualität seinen Job verlor und aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde, der ermordet wurde. Hui, hui, da hat der Meister aber ein starkes Bild gewählt. Später wird er singen: „Pasolini is me“.

Als er auf die Bühne kommt, trägt er eine braune Hose und ein schwarzes Hemd, das sich über seinem kompakten Oberkörper spannt und von Anfang an nicht besonders zugeknöpft ist. Er fängt an mit „Panic“. Hang the DJ. Kurze Befürchtung: Jetzt hakt er aus Publikumsbefriedigungsgründen ein paar Smiths-Klassiker ab, dann erst schleicht er sich chronologisch voran in sein Solo-Oeuvre. Macht er natürlich viel souveräner.

In seine Setlist von 22 Stücken streut Morrissey fünf alte Pralinchen, der Rest ist das Material der beiden letzten Supererfolgsplatten. Deren üppigen Sound live umzusetzen, das ist der Anspruch. Die Jungs an den Instrumenten, allesamt kleidsam mit weißem Hemd und Fliege, sind Profis. Es klingt gut und orchestral und druckvoll und fast genau wie auf Platte. Riesenpauke und Riesengong machen Theater, im Lichtkegel wird heroisch posaunt, Kinderchöre und Donnergrollen aus der Konserve werden unmerklich mit dem Livesound verschmolzen. Auf diese solide Grundlage legt sich das vom Alter völlig ungetrübte Organ des Sängers (er ist immerhin 47 mittlerweile). Mit Leichtigkeit zieht er Kopf- und Bruststimme aus seinem vorgeschobenen Kinn. Dazu lässt er das Mikrofonkabel in Wellenbewegungen über die Bühne schnalzen, gleichzeitig Cowboy und Bändertänzer.

„Was um alles in der Welt macht ihr hier?“, fragt er als großer Impresario der rhetorischen Frage. Als er daraufhin mit einer Zigarre beworfen wird, beschnuppert er sie fachmännisch und konstatiert: „Das ist eine sehr billige.“ Trotzdem schüttelt er charmant die Hände der Menschen in der ersten Reihe. Er schwitzt am Rücken und tauscht das schwarze Hemd gegen ein weißes. Das pellt er sich bei „Let me kiss you“ vom Leib, an der Stelle, wo im Text das begehrte Gegenüber feststellt, dass es sich mit jemandem eingelassen hat, den es „physisch verachtet“. Dafür gibt es wenig Anlass. Morrisseys Oberkörper ist zwar nicht mehr richtig rank, überschreitet aber an keiner Stelle den Umfang des Brustkorbs. Entblößt – gut; getraut – reicht; Abgang und neues Hemd. Frauen sind immer noch damit beschäftigt, das gefangene Hemd in immer noch kleinere Teile zu zerreißen.

Das Finish heißt „Live is a Pigsty“. Hier legt der Meister seine Karten auf den Tisch: Obwohl das Leben natürlich immer noch ein großer Schweinestall ist und alles höllisch weh tut so im Allgemeinen, hat es jetzt ein End mit der Heulsusigkeit: Auf ins Leben, sich verlieben, ins Leben, gerade weil Schweinestall. Arm in Arm mit der Band verbeugt er sich, täuscht einen Hexenschuss vor, grinst, streckt die Zunge aus dem Mund und sagt „Ciao!“ ins Mikrofon. Die coole Sau.