Mach mal Gandhigiri

Eine Bollywood-Filmkomödie hat Mahatma Gandhis Philosophie des gewaltfreien Umgangs mit Konflikten zurück in den Alltag Indiens katapultiert: „Gandhigiri“ heißt das neue Zauberwort

VON BERNARD IMHASLY

Indiens Wortschatz ist um einen neuen Ausdruck bereichert worden. Er heißt „Gandhigiri“ und bezeichnet, wie vom Namensvater Mahatma Gandhi gepredigt, einen gewaltlosen Umgang mit Konflikten. Im ganzen Land wird plötzlich „Gandhigiri“ praktiziert, als hätte man endlich einen Ausweg aus den Schimpftiraden, Schmiergeldern und Stockhieben gefunden, die auch in Indien den Umgang mit Konflikten aller Art prägen.

Streikende Ärzte im AIIMS- Spital in Delhi begrüßten Vertreter des Managements mit Blumen statt mit erhobenen Fäusten. Ebenfalls mit Blumen erreichten die Besitzer eines illegal besetzten Grundstücks ihren Zweck: Nach Jahren ergebnislosen Prozessierens mit einem Grundstücksmakler taten die Blumensträuße ihre Wirkung, die täglich dutzendweise in der Direktion eintrafen.

Die Händler-Vereinigung der Hauptstadt gab bei ihren Protesten gegen den Abriss illegal gebauter Geschäfte die Losung aus, in der Asketenkluft des Mahatma – Hüfttuch und Stock und Sandalen – auf die Straße zu gehen. Auch die weißen Gandhi-Berets verkaufen sich plötzlich wie Bollywood-Poster, in Schulen wird „Gandhigiri“ ins Curriculum aufgenommen, und Sonia Gandhi ermahnt ihre Parteigenossen, im Umgang mit dem Gegner die sanfte Härte der Gewaltlosigkeit zu üben

So überraschend diese Neuentdeckung Gandhis ist, so überraschend ist ihre Entstehung. Sie ist Bollywood zu verdanken, das mit dem Ganovenfilm „Weiter so, Munnabhai“ den erfolgreichsten Streifen des Jahres produziert hat, in dem ausgerechnet der Vater der Nation so etwas wie eine Hauptrolle spielt. Es geht um einen harten Jungen, der im Hauptberuf die Wohnungen von unliebsamen Mietern räumt, damit sein Boss, ein Bauhai, sie abreißen kann. Dank einem gewonnenen Quiz zum Thema Gandhi wird er plötzlich zu Vorträgen über dessen Gewaltlosigkeit eingeladen. Dies zwingt ihn, sich mit dem großen Mann auseinanderzusetzen und, zuerst gegen seinen Willen, friedvolle Methoden der Streitschlichtung zu initiieren – eben „Gandhigiri“ statt den (im Wortschatz fest verankerten) „Dandagiri“, dem Eindreschen mit dem Stock oder „Gundagiri“, der Herrschaft der Schlägertypen.

Der phänomenale Erfolg der Filmkomödie und die spontanen Bürgeraktionen, die überall im Land lanciert werden, scheinen zu zeigen, dass „Munnabhai“ einen wunden Punkt getroffen hat. Endlose Rechtshändel, verfeindete Familien, Korruption und die Brutalisierung des öffentlichen Lebens geben der Philosophie Gandhis eine neue Aktualität. Dass sie nun in einem Bollywood-Streifen daherkommt, weckt allerdings den Verdacht, dass auch dieses echte Bedürfnis als leicht verdaulicher Konsumartikel verharmlost wird, dessen Verfallsdatum bereits einprogrammiert ist.

Der Soziologe Dipankar Gupta sieht „Dandhigiri“ als Pflästerchen, mit dem sich die Mittelklasse aus der Pflicht stiehlt, statt das Übel an der Wurzel zu packen. Wer auf den Beweis wartete, dass „Gandhigiri“ nur so lang gebraucht wird, wie es Erfolg hat, erhielt ihn von den Händlern der Hauptstadt geliefert. Als zwei Tage friedlicher Proteste kein Einlenken der Behörde erwirkten, wurden die Friedenshelden handgreiflich und zündeten Busse und Polizeistationen an: „Gandhigiri wird zu Gundagiri“ titelte die Times of India.

Während die mediale „Gandhigiri“-Welle hochschlägt, liegt in einem kleinen Zimmer des AIIMS-Spital eine junge Frau namens Irom Sharmila aus dem indischen Nordosten, von den Medien schon wieder vergessen. Sie ist im siebten Jahr ihres Hungerstreiks, mit dem sie den Staat zur Änderung eines drakonischen Militärgesetzes bewegen will.

Sie wurde 2000 wegen versuchten Selbstmords verhaftet und zwangsernährt. Nach einem Jahr wurde sie jeweils freigelassen und wieder in Gewahrsam genommen. Diesmal gelang es Menschenrechtsaktivisten, sie nach der Freilassung und vor der erneuten Verhaftung am 3.Oktober heimlich nach Delhi zu bringen. Dort setzte sie ihren Hungerstreik fort.

Drei Tage später kam der Regierungschef von Manipur zu ihr und bat sie, den Streik aufzugeben. „Nur wenn das Gesetz abgeschafft wird“, sagte sie. Eine Stunde später wurde sie verhaftet, und im AIIMS-Spital wurde die Zwangsernährung wieder aufgenommen. Sharmila wird von sechs Polizeibeamten bewacht, von der Außenwelt komplett abgeschirmt. „Ich muss dies vollenden. Es ist Gottes Wille“, sagte sie am Donnerstag auf die Frage, wie lange sie noch zu leiden beabsichtige.

Sie zeigt, dass „Gandhigiri“ aus weit mehr als einem Strauß Blumen besteht.