Koistinens Kreuzweg

„Wie war es im Gefängnis?“ – „Man konnte nicht hinaus. Alle Türen waren verschlossen.“ So knapp und lakonisch reden die Figuren in Aki Kaurismäkis neuem Film „Lichter der Vorstadt“. Im Mittelpunkt steht ein Wachmann, der sich ausnutzen lässt

Vielleicht ist Koistinen wirklich der romantische Trottel, als der er verhöhnt wird. Vielleicht weiß er aber auch: Er hat sowieso keine Chance

von DIETMAR KAMMERER

In Aki Kaurismäkis neuem Film brennen die Lichter der Vorstadt nicht einfach im Ungefähr, sondern an einem geografisch genau umrissenen Ort: Ruoholahti. Auf der Kino-Karte Kaurismäkis war das ehemalige Hafenviertel im Westen Helsinkis bislang ein unerforschter Ort. Einst stellte Nokia hier Kabel her. Als das Unternehmen sich auf Mobiltelefone verlegte, wurde die Fabrik geschlossen, die Arbeiter wurden entlassen. Heute beherbergt das Gelände ein vom Telekommunikations-Multi gesponsertes Kulturzentrum. Die andere, mittlerweile geschlossene Produktionsstätte vor Ort gehörte Alko, dem staatseigenen Monopolisten, der die Finnen seit jeher mit Hochprozentigem versorgt.

Um den Stadtteil wieder aufzumöbeln, wurde das Areal in den Neunzigern einer radikalen Umstrukturierung unterzogen. Neben Wohnhäusern entstanden Technologieparks, in Geschäftsvierteln wurden verspiegelte Bürotürme aus dem Boden gestampft. Nokia hat seine Entwicklungsabteilung hierher verlegt, stolz schmückt man sich mit dem Titel „Silicon Valley Finnlands“. Tagsüber wimmelt es hier nur so von geschäftigen Menschen in Anzug und Krawatte. Nachts, so zeigt es uns Kaurismäkis „Lichter der Vorstadt“, ist Ruoholahti ein gottverlassener Ort. Dann weht zwischen den Glasfassaden ein kalter Wind. Dann sind nur noch diejenigen unterwegs, die eigentlich nicht hierher gehören.

Einer davon ist der Wachmann Koistinen (Janne Hyytiäinen), der seinen Dienst in einem luxuriösen Einkaufszentrum verrichtet. Wenn wir ihn zu Beginn seine Runde drehen sehen, wirkt er beinahe selbstbewusst. Seine Schlüssel rattern an den vergitterten Schaufenstern entlang, hinter denen lauter Waren liegen, die er sich nicht leisten kann. Prüft er insgeheim, wie fest die Barrieren zwischen ihm und den Versprechungen des Wohlstands wirklich sind? Aber Koistinen ist kein Herr in dieser Welt der glänzenden Dinge, die Dinge beherrschen Koistinen. Der Schlüsselbund, der elektronische Pass, die Uniform – alles nur geliehen. Würde er er auf seinen Touren den Zeitpunkt, an dem er sich an einem Kontrollpunkt zu melden hat, verpassen, das System würde sein Fehlverhalten sofort melden. Ein Marionettendasein.

Nicht einmal seine Kollegen respektieren ihn, am allerwenigsten sein Vorgesetzter, der ihn am Ende jeder Schicht, seit Jahren schon, seinen Namen wie einen Schuljungen aufsagen lässt. Das sei so Vorschrift, frotzelt der Mann hinter dem Schreibtisch und findet, er hat einen guten Witz gemacht. Bei Kaurismäki – und nicht nur bei ihm – sind Vorschriften dazu da, Menschen zu demütigen. So kann man einander Gewalt antun, ohne sich die Finger schmutzig zu machen.

Gewalt, auch in ihrer rohen Form, ist eine Konstante in den Filmen Kaurismäkis. In „Ariel“ streckt der Protagonist Taisto mit zwei Schüssen die beiden Gangster nieder, die seinen Freund tödlich verwundet haben. Der Film hat bereits mit dem Knall aus einer Pistole begonnen, mit der ein Bergarbeiter sich das Leben nahm, nachdem die Mine stillgelegt worden war. Auch der Killer in „I Hired a Contract Killer“ richtet die Waffe schließlich gegen sich. Am Schluss von „Hamlet Goes Business“ sind sämtliche zentralen Figuren gewaltsam dahingerafft worden, erschlagen, erschossen oder vergiftet. Kaurismäki nennt den Ausgang dieses Films sein optimistischstes Happy End: Alle sind tot, keiner muss mehr leiden.

Selten jedoch erscheint die Gewalt unmittelbar. Normalerweise hören wir den Pistolenknall nur, das Drama spielt sich hinter einer Tür ab, im Off des Bildes, oder es wird durch einen raschen Gegenschnitt verdeckt. Nicht, dass Kaurismäki vor Gewalt zurückschrecken würde, er sagt nur: So einfach, wie es meist im Kino gezeigt wird, ist es in Wirklichkeit nicht. Gewalt ist nicht in den Stahl einer Waffe eingegossen. Sie ist ein Verhältnis in den Beziehungen der Menschen untereinander. Mehr als für Gangstergeschichten interessiert Kaurismäki sich für die versteckte Form des Zwangs, für das, was man strukturelle Gewalt zu nennen sich angewöhnt hat, was aber immer von Menschen an Menschen ausgeübt wird.

In „Lichter der Vorstadt“ ist sie in beinahe jeder Szene zu finden. In keinem Kaurismäki-Film ist die Entsolidarisierung der Ausgebeuteten derart weit getrieben. Vorbei die Zeiten, da man von seinesgleichen noch Hilfe erwarten durfte. Wer Kollegen hat, braucht keine Feinde mehr. Mobbing ist ein Sport geworden, jeder tritt nach unten. Koistinens Vergehen ist es, aus dieser Logik auszuscheren. Er weigert sich einfach, so zu sein wie die anderen, die einen wie ihn auch gar nicht zulassen würden in ihren Reihen. Sein Streben gilt etwas anderem, ist beinahe vermessen. Er will sich selbständig machen, eine eigene Firma für Wachschutz gründen. Kapital hat er keines, einen Bürgen sowieso nicht. In der Bank lacht man ihm für so viel Unternehmungsgeist ins Gesicht. Hinein ging es noch durch die mondäne Haupthalle, der Weg hinaus führt nur durch die schäbige Seitentür. Ein Bediensteter weist Koistinen den Weg. Die Macht, einem anderen einen tieferen Platz in der Hackordnung zuzuweisen, verschafft dem servilen Bankangestellten sichtlich Genugtuung.

Eine Blondine, die erst im Abspann den Namen Mirja (Maria Järvenhelmi) bekommt, tritt in Koistinens Leben. Sie sagt, er sehe einsam aus, und setzt sich zu ihm. Was folgt, braucht nicht lange erklärt zu werden, schon gar nicht bei Kaurismäki. Ausgehen, Essen, Tanzen, Kino. Dann der Verrat. Auch sie ist eine Marionette, und ihr Strippenzieher, der hagere Gangsterboss (Ilkka Koivula), will Koistinens Nachtwächer-Schlüssel, weil er die Juwelen will, die im Schaufenster liegen.

Dann beginnt Koistinens Kreuzweg. Die Polizei verhaftet ihn und lässt ihn mangels Beweisen wieder frei. Die Bande braucht aber einen Schuldigen, genau wie der Kommissar. Koistinen weiß, dass er erneut reingelegt wird, und verhindert es nicht. Wie der Tramp in Chaplins „Lichter der Großstadt“, dem der Filmtitel deutliche Reverenz erweist, geht er aus Liebe unschuldig ins Gefängnis. Vielleicht ist er wirklich der romantische Trottel, treu wie ein Hund, als den ihn der Hagere verhöhnt. Vielleicht leidet er auch einfach nur, weil er einer Welt, die nur nach den Regeln der Schikane operiert, überdrüssig ist. Auch für Mirja hat sich ihr Einsatz nicht gelohnt, sie darf weiterhin den Staubsauger durchs Wohnzimmer schieben, während die Männer am Kartentisch ihre Beute verzocken.

Von manchen Kritikern ist „Lichter der Vorstadt“ eher verhalten aufgenommen worden. Man war entrüstet über die Passivität der Hauptfigur: Wie kann einer den Verbrechern freie Hand lassen und sehend in sein Unglück einwilligen? – Gegenfrage: Was hätte Koistinen sonst tun können? Für Kaurismäki besteht kein Unterschied zwischen dem Milieu der Gangster und den Vertretern der bürgerlichen Welt. Beide gehen in denselben Restaurants essen, tun größer, als sie sind, und demütigen ihre Untergebenen, so gut es eben geht. Die Begegnung mit der falschen Blondine und seine Verurteilung haben Koistinen nicht um seine Chancen und seine Zukunft gebracht. Die hatte er schon vorher nicht. Und der Anschein von Verliebtsein ist immer noch besser als gar nichts, also warum nicht den Preis dafür zahlen? Vor allem in einem System, das einen lehrt, dass es nichts umsonst gibt, höchstens den Sonnenschein. Den hat Koistinen als Nachtwächter und Bewohner einer Kellerwohnung selten genießen können, erst im Knast zaubert ihm ein Sonnenstrahl ein verhaltenes Lächeln ins Gesicht.

Nach der Entlassung bleibt ihm immer noch Aila (Maria Heiskanen), die Imbissbudenfrau, deren Briefe und Blicke er ignoriert hat. „Wie war es im Gefängnis?“ – „Man konnte nicht hinaus. Alle Türen waren verschlossen.“ Und wie geht es ihm jetzt? „Alles ist aus … Nein, das war nur ein Scherz.“ – „Gut, dass du die Hoffnung nicht aufgegeben hast.“ In Kaurismäki-Country ist Hoffnung ein Scherz auf eigene Kosten.

Dann geschieht es doch noch, ein letztes, sinnloses Aufbegehren. Danach lehnt Koistinen halbtot unter den Raupenketten eines Baggers auf einer Baustelle. Die Maschine, der Dreck, im Hintergrund der Hafen. Aila kommt. Diesmal will er, dass sie bleibt. Eine flüchtige Berührung von zwei Händen beschert dem Film das flüchtigste Happy End.

„Lichter der Vorstadt“. Regie: Aki Kaurismäki. Mit Janne Hyytiäinen, Maria Järvenhelmi u. a., Finnland/Deutschland 2006, 80 Min.