Das Drama des begabten Kindes

„Vitus“ von Fredi M. Murer erzählt vom Wunderkind-Syndrom

Wunderkinder haben immer etwas Monströses an sich. Man ist fasziniert, aber auch im Ego gekränkt, denn diese kleinen Genies führen uns die eigene Mittelmäßigkeit sehr drastisch vor Augen. Diese unvermeidbare Außenwirkung isoliert sie, und davon, wie ein Wunderkind all seine Intelligenz aufbieten muss, um dieser Einsamkeit zu entfliehen, erzählt der Spielfilm „Vitus“. Der Titelheld liest schon im Kindergarten den Brockhaus und kann als Sechsjähriger virtuos Stücke von Schumann auf dem Klavier spielen. So sehen ihn alle als ein Phänomen an und niemand als Kind. Nur sein Großvater ist selbst so kindlich geblieben, dass er als einziger Vitus so erkennen kann, wie er ist. Die Eltern verwandeln sich dagegen zunehmend in die Manager des kleinen Jungen, die seine Karriere für ihn (und sich selbst) planen und dabei seine Bedürfnisse völlig ignorieren. Dieses Drama wird fast gänzlich aus der Perspektive von Vitus selbst erzählt, und durch diesen dramaturgisch geschickten Kniff kann sich das Publikum ohne Schwierigkeiten mit dem Kind identifizieren, das es im realen Leben wohl auch eher als ein abnorme Laune der Natur ansehen würde. Aber so sind wir von Anfang an ganz auf der Seite des kleinen Jungen, wenn dieser in der Grundschule die Lehrerin durch logische Spitzfindigkeiten zur Verzweiflung bringt oder die seltsamen Blicke der Erwachsenen bemerkt, denen seine Eltern bei einer Party ihren Sohn als die Attraktion des Abends vorführen. Schon hier beginnt er sich zu sträuben, und den ganzen Film über können wir Vitus dabei beobachten, wie er Gegenstrategien entwickelt, um nicht von den Erwartungen der anderen geformt zu werden. Der Feind sind dabei die Eltern, und es gelingt dem Regisseur Fredi M. Murer hierbei, diese nicht zu egoistisch zu zeichnen, sondern eher überfordert. Die Mutter will tatsächlich nur das Beste für ihr Kind, hat allerdings keinen Schimmer davon, was gut für ihn wäre. Aber Vitus durchschaut die Verhältnisse so genau, dass er schließlich darauf kommt, seine Genialität selbst zu opfern. Ein grandioser Zug (nicht umsonst sieht man Vitus und seinen Großvater immer wieder über dem Schachbrett brüten), auch von den Drehbuchautoren, die spätestens mit diesem Gambit die Genre-Konventionen hinter sich lassen, die man von anderen Filmen über Wunderkinder wie Jodie Fosters „Little Man Tate“ kennt. Der Vergleich kommt nicht von ungefähr, denn „Vitus“ wirkt überhaupt nicht wie ein kleiner europäischer Autorenfilm, sondern eher wie eine hochprofessionell gebaute Studioproduktion, die als schweizerische Nominierung durchaus Chancen auf den Oscar des besten fremdsprachigen Films hat. Mit Bruno Ganz ist auch der berühmteste Schauspieler der Schweiz mit dabei, aber sein Auftritt ist weit mehr als ein Starauftritt, denn er gibt den Großvater wunderbar als einen weisen, warmherzige Mann, der als einziger Vitus etwas lehren kann, so dass dieser auch seine emotionelle Intelligenz entwickelt. Solch ein Film steht und fällt natürlich mit dem Hauptdarsteller, und da Vitus sowohl als Sechs- wie auch als Zwölfjähriger auftritt, musste er von zwei Jungen verkörpert werden. Fabrizio Borsani , der während der Dreharbeiten selbst noch in den Kindergarten ging, ist einer von diesen Kinderdarstellern, die noch ganz unbefangen vor der Kamera im doppelten Sinne des Wortes spielen können, und der 12-jährige Teo Gheorhiu ist tatsächlich musikalisch hoch begabt – und zudem ein sensibler, vor allem aber sehr sympathischer Darsteller. Das Konzert zum Finale spielte er nicht nur selbst, es wurden auch Eintrittskarten dafür verkauft, mit deren Erlös die finanziellen Löcher der Produktion gestopft wurden. Auf solch eine schöne Idee hätte auch Vitus kommen können.

Wilfried Hippen