Der Konsens bröckelt

VON STEPHAN KOSCH

Der Energiekonzern EnBW will den 30 Jahre alten Atomreaktor Neckarwestheim I länger betreiben als bisher gesetzlich vorgesehen. Das Unternehmen stellte gestern einen entsprechenden Antrag beim Bundesumweltministerium. Statt 2009 soll der Kraftwerksblock nun erst frühestens 2017 vom Netz gehen. Dies soll möglich werden, indem Stromproduktionsmengen auf das alte Kraftwerk übertragen werden – und zwar vom neueren, benachbarten Schwesterreaktor . Damit würde die Betriebszeit dieses jüngeren AKW Neckarwestheim II fünf Jahre früher enden als vorgesehen. Bundesumweltminister Sigmar Gabriel erklärte, dass der Antrag streng geprüft werde. Dies könne mehrere Monate dauern. Besonderes Augenmerk werde darauf gelegt, ob beide Kraftwerke auf gleichem Sicherheitsniveau seien. Gabriel warf EnBW zugleich ein einseitiges Aufkündigen des Atomausstiegs vor.

In dem mit der Energiewirtschaft vereinbarten Atomkonsens hatte jeder Meiler bestimmte Strommengen erhalten, die dort noch produziert werden dürfen. Sind sie verbraucht, muss der Reaktor vom Netz. So geschehen in Stade und Obrigheim. Das Gesetz sieht allerdings vor, dass Stromrestmengen übertragen werden können. Will ein Konzern ein älteres Kraftwerk eher schließen und ein moderneres länger laufen lassen, kann er das ohne Genehmigung tun. Im umgekehrten Fall, wie jetzt bei Neckarwestheim, muss das Bundesumweltministerium dies im Einvernehmen mit dem Kanzleramt und dem Wirtschaftsministerium erlauben. Einen solchen Antrag hatte auch RWE bereits im September für den Meiler Biblis A gestellt (siehe Text unten). Kritiker vermuten, dass die Konzerne so ihre alten Reaktoren in die nächste Legislaturperiode retten wollen. Denn der Atomkonsens ist innerhalb der großen Koalition umstritten, mehrere CDU-Politiker fordern bereits längere Laufzeiten.

EnBW-Chef Utz Claassen wies diesen Vorwurf gestern aber zurück. „Wir betreiben keine wahltaktische Kosmetik“, sagte er. Zwar machte er keinen Hehl daraus, dass er längere Laufzeiten befürworte, und nannte mit Blick auf den internationalen Vergleich vierzig Jahre als untere Grenze. „Ich bin nach wie vor für den Kernenergieausstieg“, sagte Claassen. Er müsse allerdings „modernisiert werden“.

Der Antrag für Neckarwestheim sei aber nicht politisch motiviert. Es gehe darum, die Anlage weiterhin als Doppelblock zu betreiben. Dies sei wirtschaftlicher, weil Synergien genutzt werden könnten. Und es sei notwendig für den Klimaschutz, da ein Atomkraftwerk kein Kohlendioxid in die Luft blase. Sollte Neckarwestheim vom Netz müssen, werde als Ersatz ein neues Kohlekraftwerk in Karlsruhe dienen, erläuterte Claassen. Das werde allerdings in jedem Falle gebaut. Zusätzliche Kapazitäten zur Stromerzeugung seien politischer Wille.

Umweltschützer reagierten mit heftiger Kritik auf den Antrag von EnBW. Das Unternehmen „redet über das Klimaproblem und vieles mehr, nur nicht über seine wahren Motive“, erklärte Rainer Baake, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe. Es gehe um Sonderprofite von rund 200 Millionen Euro pro Jahr und um die faktische Auflösung des Atomkonsenses. Die Aktion „Atomausstieg selber machen“, die von vielen Umweltschutzorganisationen getragen wird, rief dazu auf, Verträge mit EnBW und anderen Betreibern von Atomkraftwerken zu kündigen und zu Ökostromversorgern zu wechseln.

Zustimmung kommt hingegen von anderer Seite. Utz Claassen vermeldete, dass die Deutsche Bahn den Antrag begrüße. Sie ist einer der Gesellschafter der für Neckarwestheim zuständigen EnBW-Tochter, die auch den Strom für die Züge der Bahn liefert. „Ich habe mit Herrn Mehdorn telefoniert“, sagte Claassen. „Er steht ohne Wenn und Aber hinter dem Antrag.“