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: Hilfe, die Geschichte lebt!

Zurück in die Steinzeit, schuften wie vor 200 Jahren, einmal noch das Wirtschaftswunder erleben: Bei der ARD ist man ganz besoffen vom Zeitreisefernsehen.

Manchmal lässt sich mit Fug und Recht behaupten: Die ARD und ihre Dritten Programme sind etwas zurückgeblieben. In der Zeit. Damit ist nicht die biedere Aufmachung der notorischen Schunkelveranstaltungen gemeint, mit der so manche Dritten gefühlte 80 Prozent ihres Programms bestücken und das dann als regionale Dienstleistung verstanden wissen wollen. Nein, es geht ums pädagogisch wertvolle Zeitreisefernsehen, für das sie bei der ARD den eindrucksvollen Begriff „Living History“ erfunden haben. Und dass inzwischen gewaltig nervt.

Vier Jahre nachdem der SWR für seine Doku „Schwarzwaldhaus 1902“ den Grimme-Preis einheimste, sind die Dritten immer noch ganz besoffen von der Idee, arglose Menschen aus der Großstadt für ein paar Wochen von Job und Schulpflicht zu befreien, mit altertümlichen Kostümen auszustatten und in Kulissen zu stecken, wo sie den harten Alltag früherer Generationen nachspielen sollen, was anschließend ausführlich in Reportagereihen dokumentiert wird.

Im Oktober hat das Hamburger NDR-Radio 90,3 eine Familie angeheuert, eine Woche lang im Harburger Freilichtmuseum als Bauern wie im 19. Jahrhundert zu leben: „Ohne Strom, Dusche und Heizung, dafür mit einer großen Portion Abenteuer und viel harter Arbeit.“ Dazu gab’s ein eigenes Podcast-Angebot und jede Menge Begleitberichte im NDR Fernsehen. Ab der kommenden Woche laufen dort am Nachmittag TV-Zusammenfassungen in Dreiviertelstunden-Häppchen.

Ab 9. Januar zeigt das Erste am Vorabend die „Bräuteschule 1958“, in der junge Frauen durch eine Art Hauswirtschaftsschule gescheucht werden. Ähnliches probierte das ZDF im vergangenen Jahr schon einmal mit „Die harte Schule der 50er“, einem unsäglichen Wirtschaftswunder-Drillcamp, bei dem Lehrer mal so richtig rumbrüllen durften. Der SWR hat noch „Steinzeit – Leben wie vor 5.000 Jahren“ in petto, bei der eine Großfamilie für zwei Monate in einem Pfahldorf den Ötzi geben durfte.

Was wird diese neueste Generation der Zeitreisenden wohl herausgefunden haben? Dass es mühsamer ist, zwei Steine aneinander zu reiben, anstatt Streichhölzer zum Feuermachen zu benutzen? Dass Melken gelernt sein will? Und die Playstation schnell in Vergessenheit gerät, wenn man draußen herumtoben kann? Nachher sagen wieder alle, es sei eine wertvolle Erfahrung gewesen, sich auf das Experiment einzulassen, und dass sie nie vermutet hätten, wie hart früher geschuftet und wie beschwerlich gelebt wurde.

Was die Zuschauer von solchen „Living History“-Sendungen zu erwarten haben, ist längst so berechenbar geworden wie die immer wiederkehrenden Grundkonflikte einer Daily Soap. Und – wenn’s ganz schlimm kommt – auch so ähnlich inszeniert. 2005 hat die ARD mit „Windstärke 8 – Das Auswandererschiff“ schon einmal bewiesen, wie gut sich eine „Living History“-Idee in den Sand setzen lässt. Pädagogischer Wert hin oder her – es wird Zeit, dass die Vergangenheit im Fernsehen mal Pause macht.

PEER SCHADER