Die Vermessung des Bestsellers

Zunächst einige sportive Eindrücke davon, wie Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“ zum Buch des Jahres 2006 wurde. Sodann Anmerkungen zur Frage, warum dieser Erfolg keinerlei Auswirkungen auf die literarischen Debatten hat

Der neue Literaturbetrieb kann einen Roman auf die Bestsellerliste bringen. Dass über den Roman auch debattiert wird, schafft er nicht

VON DIRK KNIPPHALS

In der dritten Kalenderwoche übernahm er die Pole Position, indem er – Wahnsinn! – „Harry Potter“ vom ersten Platz verdrängte. Der Roman eines Autors, der unter Junger Deutscher Literatur läuft, über weite Strecken in indirekter Rede geschrieben, rangiert vor dem neuesten Produkt der perfekt geölten Marketingmaschine um Joanne K. Rowling! Wer Sinn für sportive Situationen auf dem Buchmarkt hat, musste sich damals, im Januar 2006, erst einmal die Augen reiben. Was für eine Verfolgungsjagd zweier ungleicher Konkurrenten! Und was für ein Finish! Der Außenseiter überholt die Chefin im Ring der aufgestapelten Büchertürme.

Und wie souverän er das machte! Denn von da an hieß es Woche für Woche: Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste: Daniel Kehlmann: „Die Vermessung der Welt“, Rowohlt; 19,90 Euro. Unbedrängt drehte er seine Runden, fünf volle Monate lang, sage und schreibe bis zur 23. Kalenderwoche. Erst dann wurde er abgefangen, von Donna Leon, was schließlich keine Schande war. Schon bis dahin war Daniel Kehlmanns Buch ein riesiger Erfolg. Ach, schon der zweite Platz hinter „Harry Potter“ war ja etwas zum Staunen gewesen. Und man dachte, nun gut, jetzt wird das Buch allmählich austrudeln.

Aber denkste! Kehlmann kam sogar noch einmal zurück. Erst ließ er sich von Donna Leon einfach nicht abschütteln; unerbittlich blieb er der Krimiautorin auf den Fersen, bis die schließlich erlahmte. Dann lieferte sich Kehlmann zähe Gefechte mit der neuen Nummer eins, der Thrillerautorin Elizabeth George, wie verbissen klammerte er sich an den zweiten Platz. Und, siehe, er konnte sie sogar noch einmal überholen. Das war in der 30. Kalenderwoche, wieder stand „Die Vermessung der Welt“ auf dem ersten Platz. Ein schöner Triumph. Allerdings wie ein letztes Aufbäumen, dachte man. Denn schon in der Woche drauf kam die neueste Produktion aus dem Hause Ildikó von Kürthy auf den Markt, und dann kamen, SS-Beichten-befeuert, die Erinnerungen von unserem Nobelpreisträger. Kürthy und Grass – zwei Autoren, die gleichsam naturwüchsig ganz oben auf den Bestsellerlisten standen.

Jetzt, so war man sich sicher, würde Kehlmann endgültig die Segel streichen müssen. Im eigenen Bekanntenkreis fand sich sowieso kaum noch jemand, der nicht schon längst eine gefestigte Meinung zu diesem Autor und zu diesem Buch hatte. Die eine Hälfte hatte das Buch längst gelesen. Die zweite Hälfte erklärte kategorisch, dieses Buch nun niemals mehr lesen zu wollen. Auch bei Patrick Süskinds „Parfum“ war es so gewesen. Ab irgendeinem Zeitpunkt des Erfolgs kommen Peinlichkeitsmomente auf, wenn sich jemand noch ungebrochen zu dem Buch bekennt. Nun ist es also gut, dachte man ein weiteres Mal.

Tja. Und hatte sich wieder getäuscht. In der 40. Kalenderwoche stand Kehlmann wieder auf Platz eins, Kürthy und Grass dagegen fielen zurück. Dann kam noch der Zweikampf mit Katharina Hackers Roman „Die Habenichtse“, der durch den Gewinn des Deutschen Buchpreises ganz nach oben auf der Bestsellerliste katapultiert worden war. Kehlmann gegen Hacker, so ging es den Herbst lang. Bis Kehlmann auch diesen Zweikampf für sich entschied, mittlerweile ganz Champion.

Und so steht nun, wie man zum Jahresende beinahe etwas erschöpft feststellt, wieder einmal beziehungsweise immer noch Daniel Kehlmann auf dem ersten Platz der Spiegel-Bestsellerliste. 34-mal wurden die Druckmaschinen angeworfen. Wieder und wieder wurden neue Exemplare auf die Hardcover-Tische der Buchhandlungen gelegt. Von 850.000 verkauften Exemplaren spricht inzwischen der Verlag. Unter sportiven Gesichtspunkten war 2006 sein Jahr. Da gibt es nichts. Es war das Jahr des Daniel Kehlmann.

Ein Phänomen. Man muss sich das noch einmal so eingehend erzählen, um die Besonderheit dieses Moments zu begreifen. Verrückte, im Grunde unerklärliche Ausschläge von Buchverkäufen nach oben hat es zuletzt einige gegeben. Hape Kerkeling hat im Sachbuchsektor mit seiner Pilgergeschichte „Ich bin dann mal weg“ 1,1 Millionen Exemplare verkauft. Frank Schätzings „Der Schwarm“ ist inzwischen so häufig über den Ladentisch gegangen, dass selbst die zuständigen Verlagsleute nur noch ungläubig mit dem Kopf schütteln, wenn man sie danach fragt. „Die Vermessung der Welt“ hat nun gezeigt, dass so ein crazy Hype auch ein Buch treffen kann, dessen Autor noch neulich von den kleinen, feinen, unrentablen, aber idealistischen Literaturzeitschriften im Inner Circle des Literaturbetriebs als einer der Ihren betrachtet wurde. Hier das Anerkennungsspiel um vielleicht noch ’ne Auflage, noch einen Preis, noch ein Stipendium im Betrieb und viele Punkte auf der SWR-Bestenliste, dort das Ellenbogenspiel auf den Bestsellerlisten – das geht nicht mehr, die Bereiche sind zusammengefallen.

Und doch hat es mit „Der Vermessung der Welt“ auch seine merkwürdige Bewandtnis. Denn so wie man dies Buch von den Verkaufszahlen her zum Roman des Jahres hochschreiben kann, so kann man es von seinen inhaltlichen Auswirkungen her auch gleich wieder runterschreiben. Wahrscheinlich hat sich, grob geschätzt, jeder zweite Buchkäufer, der sich 2006 für einen aktuellen deutschen Roman entschied, für „Die Vermessung der Welt“ entschieden. Eine mehr als beeindruckende Einschaltquote. Aber sind von ihm eindringliche ästhetische Impulse zu vermelden? Wurde auf breiter Front diskutiert, ob es wirklich gut und schön ist, den historischen Roman auf diese Art neu zu erfinden? Gab es eine Debatte darum, warum plötzlich ein Rückgriff auf die Preußenzeit so populär werden konnte? Das alles blieb in Ansätzen stecken. Stattdessen wurde das Phänomen Kehlmann in Porträts, Interviews und abgedruckten Dankesreden des Autors zu Literaturpreisen abgefangen.

Liegt das vielleicht an dem Roman selbst? Ist „Die Vermessung der Welt“ letztendlich ein harmloser Bestseller, über den es gar nichts zu debattieren gibt? Damit hätte man es sich zu leicht gemacht – auch wenn man die Genie-und-Zahnschmerzen-Welt, die Kehlmann anhand des Mathematikers Carl Friedrich Gauß schildert, schon von Thomas Mann her ganz gut kennt. Und auch wenn die Szenen um die Entdeckungsreisen Alexander von Humboldts nicht ganz so eindrücklich geraten wie die um Gauß. Denn das macht alles nichts. Der intelligenten Konstruktion und den kunstvollen Dialogen des Buches kann das alles nichts anhaben.

Nein, man braucht nicht in den Mainstreamreflex zu verfallen und das Buch wegen seiner vielen, vielen Leser plötzlich fallen zu lassen. Aber – um die Bildlichkeit aus dem Titel des Romans aufzunehmen – die Literaturlandschaft von ihm aus neu vermessen, das braucht man offenbar auch nicht, sei es, dass man sich auf die Seite des Buches schlägt, sei es, dass man sich davon abgrenzen will. Und das ist schon verwunderlich, angesichts seiner vielen Leser.

Liegt es vielleicht an der Literaturlandschaft? Das könnte schon eher sein. Schaut man sich jedenfalls die Debatten an, die es etwa in die Jahresrückblicke der Nachrichtenagenturen geschafft haben, kann man durchaus den Eindruck gewinnen, dass der Literaturbetrieb immer wieder in ausgetretene Bahnen rutscht. Der Streit um Peter Handke und den Heinepreis – eine Reprise alter Schlachten, in der die Handke-Verehrer und Handke-Verächter noch einmal ihre Argumente austauschen konnten. Günter Grass verschweigt die Mitgliedschaft bei der Waffen-SS – eine moralisch missliche Sache, die immerhin Anlass gab, sich die Danziger Trilogie des Autors noch mal genauer anzusehen, insgesamt aber auch nicht abendfüllend war. Und der Suhrkamp-Verlag kommt auch nicht zur Ruhe – ein Satz, den man sich patentieren lassen sollte; wer bei jeder Erwähnung dieses Satzes nur einen Euro bekommt, braucht sich um die Rente keine Sorgen mehr zu machen, so lange wird dieser Satz wohl noch in aufgeregten Recherchen rund um den Frankfurter Verlag fallen.

Im Grunde Stillstand der Debatten also. Und dabei hat sich der Literaturbetrieb in den vergangenen Jahren doch so gründlich erneuert, mit einem neuen Willen zum Erzählen; mit neuen, guten Marketingmechanismen wie dem Deutschen Buchpreis und dem Preis der Leipziger Buchmesse; mit einer Vielzahl von Institutionen und Prominenten, die an allen Ecken und Enden beflissen das Lesen propagieren und neue Romane empfehlen; mit neuen allseits ausprobierten journalistischen Formen wie Buchgesprächen im Radio und Homestorys sowie einer erfreulichen Unbefangenheit im Umgang von Autoren und Kritikern untereinander. Dieser runderneuerte Literaturbetrieb schafft es also inzwischen, einen qualitativ hochwertigen Roman eines deutschen Nachwuchsautors an die Spitze der Bestsellerlisten zu bringen (mit ziemlich viel Hilfe von Buchhändlerinnen und Mundpropaganda). Aber dass über diesen Roman dann auch tatsächlich diskutiert wird, das schafft er noch nicht.

Da ist also noch einiges zu tun. Wenigstens sollte man sich inzwischen gewappnet haben. Und sei es für den Fall, dass Daniel Kehlmann auch noch Ende des Jahres 2007 die Bestsellerlisten anführt.