Die Krux der Soziologie

Die Wissenschaft vom Gemeinwesen macht für Arnim Nassehi einen entscheidenden Fehler: Sie denkt Gesellschaft immer als Nationalstaat. Globalität lässt sich so aber nicht analysieren

von HAUKE BRUNKHORST

Das Buch mit dem herausfordernden Titel „Der soziologische Diskurs der Moderne“ stemmt sich der epidemischen Theoriemüdigkeit der Soziologie entgegen. Das ist ein nicht geringes Verdienst dieses anspruchsvollen Versuchs, den „Philosophischen Diskurs der Moderne“ zu überbieten, den Habermas vor gut 20 Jahren inszeniert hatte und dem Nassehi – wie Marx einst Hegel – nun attestiert, ihre Epoche auf den Begriff gebracht zu haben.

Das Buch beginnt schwungvoll mit einer Kritik der bürgerlichen Soziologie und erzählt deren grand narratif. Der Autor wetzt die „Waffe der Kritik“ (Marx) von Kapitel zu Kapitel – erst eine Kritik der reinen Soziologie, dann der handelnden, der authentischen, der operativen, schließlich der gesellschaftlichen Vernunft. Eine Kritik für jedes Kapitel und alle in einem Band.

Nassehi kritisiert die „Bürgerlichkeit“ der herrschenden Soziologie, weil sie – von Marx bis Adorno, von Weber bis Habermas, von Mead bis Beck – die moderne Gesellschaft mit republikanischen Augen als „öffentliche Arena“ der Selbstaufklärung eines Staatsbürgerpublikums betrachtet habe. Die Gesellschaft der bürgerlichen Soziologie ist „Nationalgesellschaft“ und ihr normatives Ideal findet sie, auch wenn sie es bisweilen auf die ganze Welt ausdehnt, im „Nationalstaat“.

Eine solche Gesellschaft bedarf der normativen Integration durch vernünftige Motive, die vernünftiges Handeln zu einer vernünftigen Gesellschaft formen, die dann ihrerseits durch zwingendes Staatsrecht stabilisiert werden muss. Die Praxis der soziologischen Theorie war deshalb immer an sozialen Fragen und ihrer politischen Lösung im Nationalstaat orientiert. Auch wenn eine subversive Strömung, die von Dewey über Mead bis Luhmann und Bourdieu reicht, den rationalistischen Integrationsglauben zu demolieren versucht hat – von der hegemonialen Fixierung auf die Gesellschaft des Nationalstaats konnte sich keiner wirklich befreien. Für Weltrecht und Weltgesellschaft blieben stets nur ein paar Seiten am Schluss der dicken Bücher.

Heute aber verflüchtigt sich der Gegenstand der bürgerlichen Soziologie auf einer „vollends aufgeklärten Erde“ (Adorno / Horkheimer), die als Weltgesellschaft auch der „soziologischen Aufklärung“ (Luhmann) nicht mehr bedarf, weil sie sich selbst nur noch als Gesellschaft versteht, die sich im soziologischen Wissen selbst reflektiert. Die Weltgesellschaft hat den sozialen und politischen Zentrismus der bürgerlichen Soziologie dezentriert. Sie lässt sich nicht mehr normativ integrieren und muss ohne Staat auskommen. Sie hat deshalb auch keinen Ort mehr, von dem aus sie kritisiert werden könnte. In ihr schweigt die Stimme der Kritik, und sie verstummt auch im letzten Kapitel von Nassehis Buch.

An die Stelle der sozialen Kritik einer „verkehrten Welt“, die bei Marx auf diejenige des „verkehrten Weltbewusstseins“ gefolgt war, tritt bei Nassehi das Vertrauen in die Sachlichkeit ihrer Funktionssysteme. In der „postsozialen Gesellschaft“ heilt die „Zeit“ alle Wunden „dadurch, dass gelingt, was geschieht“. Warum dann nicht gleich „preisen“ (Gumbrecht), was sowieso geschieht – so wie es die Operette will?

So weit geht Nassehi nicht, aber auch sein Schluss, die Leiter fortzuwerfen, nachdem der Gipfel der Weltgesellschaft erklommen ist, ist nur zwingend, wenn die Prämisse stimmt. Die Prämisse ist aber falsch. Die Arena öffentlicher Selbstverständigung ist keineswegs starr an den Nationalstaat gekoppelt, sondern hat sich längst zur Weltöffentlichkeit erweitert, und sie streitet in vielen Arenen jenseits des Staats (und oft gewaltsam) über ihre öffentlichen Angelegenheiten. In diesem Sinn hat sich die Republik, die res publica, also eben die öffentliche Sache, längst vom Staat abgelöst. Die Arena der Soziologie, in der auch Nassehi spricht, ist viel allgemeiner als das bürgerliche Publikum des Nationalstaats. Um das zu erkennen, hätte die tägliche Lektüre der „Tagesschau“ und von Bild ausgereicht.

Nassehi verschließt sich trotzig dieser Erkenntnis, weil er deren normative Implikationen, die Fortsetzung der Kritik scheut, wie der Teufel das Weihwasser. Er lobt Ulrich Beck für dessen bahnbrechende Kritik am methodischen Nationalismus der Soziologie, wischt aber dessen Vorschlag, den Streit um die öffentlichen Angelegenheiten jetzt auf den vielen nationalen und postnationalen Arenen fortzuführen, als letzten Funken bürgerlicher Ideologie vom Tisch. Das aber kann er nur, weil er glaubt, der Streit um die „richtige Einrichtung der Gesellschaft“ (Adorno) sei nicht nur starr an den Nationalstaat, sondern ebenso starr an den vom Nationalstaat ausgehenden Krieg gekoppelt.

Die Idee einer sozialen Friedensordnung, einer diskutierenden Öffentlichkeit, einer egalitären Verfassung ohne Krieg ist ihm die tödliche Illusion der bürgerlichen Soziologie, an der sie in der gegenwärtigen Weltzeit zugrunde gehen muss. Ohne die „Feindschaft der Nationen“, ohne den „Kampf nach außen“, ohne ihren Vater, den „Krieg“ wären Verfassungen, Menschenrechte, Demokratie, Sozialstaat niemals zustande gekommen. Wäre „der weitgehende Frieden, den wir in Zentral- und Westeuropa seit 1945 genießen, kein Ergebnis von Kriegen, wäre er auch kein Frieden.“ Die vorgeblich begriffliche „Unmöglichkeit, den Frieden – den inneren wie den äußeren – ohne den Krieg zu denken“, sei „über Jahrzehnte verdrängt und unter dem Deckmantel moralischer Wohlgenährtheit als Ausnahmezustand schlechthin angesehen“ worden. Die neue Sachlichkeit der „postbürgerlichen“ Soziologie zieht den Deckmantel beiseite und wird dabei selbst zur Ideologie einer „neuen Bürgerlichkeit“ (Heinz Bude), die mit Carl Schmitt und Herfried Münkler die jungkonservative Botschaft verkündet, dass, wer von Krieg nicht reden will, vom Frieden schweigen sollte.

Armin Nassehi: „Der soziologische Diskurs der Moderne“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 502 Seiten, 34,90 Euro