Alle zwanzig Minuten ein Opfer

„Minen sollen den Gegner nur schwer verletzen. Das bindet drei Menschen, die das Opfer bergen“Jeder Gang zur Schule ist russisches Roulette. Das Leben geht weiter, weil es weitergehen muss

AUS ACHAMLONG CARSTEN STORMER

Sat Samon liegt im Staub. Schweiß läuft in seine Augen. Mit einem Messer stichelt er einen Kreis in den Boden, vier Zentimeter tief, rund um die Stelle, an der sein Detektor ausgeschlagen hat. Das Messer zuckt zurück, als er auf Widerstand stößt. Er wischt die schweißnassen Hände an der grünen Uniformhose ab, atmet tief durch und streichelt eine Tellermine frei. Einen Augenblick noch bleibt er vor der Mulde liegen, in der die Mine lauert, dann signalisiert er mit einem schrillen Pfiff seinen Fund. Langsam geht er über das ehemalige Schlachtfeld, sehr langsam. Sat Samon trägt eine Beinprothese.

Am Rand des verminten Geländes packen seine Kollegen ihr Mittagessen aus: Pakete mit Klebreis, Eiern, getrocknetem Fisch. Sie haben ihre Prothesen abgeschnallt und ins Gras geworfen; sie rauchen, reden, lachen. Samon wirft sein künstliches Bein dazu, schlüpft aus der verschwitzten Uniform und hüpft zum Brunnen, um sich zu waschen. In diesem Augenblick ertönt wieder ein Pfiff. Noch eine Mine ist entdeckt worden und kann gesprengt werden. Eine von hundertzehn Millionen, die in mehr als achtzig Ländern im Boden lauern und jedes Jahr an die zwanzigtausend Opfer fordern, viele in Samons Heimatland Kambodscha. Vier Millionen Minen sollen hier noch liegen, schätzt die UNO, vierzigtausend Menschen wurden durch sie verletzt, tausende getötet. Jedes Jahr kommen neue Opfer dazu .

Verstümmelung und Tod gehören in Ländern wie Kambodscha seit Jahrzehnten zum Alltag. Neuerdings boomt das Geschäft mit künstlichen Gliedern wie lange nicht mehr. Der Krieg der USA gegen den Terror hat nun auch makabre Folgen an der Heimatfront. Seit dem Vietnamkrieg wurden nicht mehr so viele US-Soldaten verstümmelt. Die orthopädische Industrie kann die Nachfrage kaum bewältigen.

Samon kennt dieses Schicksal. Ein junger Kerl mit Lausbubengrinsen, penibel gekämmtem Seitenscheitel und einem Gürtel, den Playboyhasen schmücken. In einem anderen Leben hätte er Model für asiatische Karaokevideos und ein kambodschanischer Mädchenschwarm sein können – wenn da nicht die Prothese an seinem rechten Oberschenkel wäre.

Es geschah vor zehn Jahren. Wie jeden Morgen trieb Samon, der damals noch Bauer war, seine Wasserbüffel über ein Reisfeld zur Weide, als ihn plötzlich eine Riesenfaust am Bein packte und mit dumpfem Knall zu Boden riss. An mehr kann er sich nicht erinnern. Nachbarn fanden ihn im Reisfeld, ohnmächtig, das rechte Bein eine blutige Masse.

„Minen sind nicht dazu gedacht, Menschen zu töten“, erklärt David Hayter, Direktor der Hilfsorganisation Mine Action Group (MAG) in Kambodscha. „Die Dinger sind so konstruiert, dass sie den Gegner schwer verletzen. Das bindet mindestens drei Menschen, die das Opfer bergen. Im Gefecht heißt das: drei Soldaten, die nicht kämpfen.“ Hinzu kommt, dass Minen in Friedenszeiten weite Teile des betroffenen Landes über Generationen zu Todeszonen machen. Unter den Opfern sind Frauen, Greise und Kinder, denen die Gefahr des verminten Geländes vor ihrer Haustür nicht bewusst ist. Und es sind Bauern, die oft gar nicht anders können, als diese Zonen zu betreten, wenn sie ihre Felder erreichen wollen.

Hayter bemüht gleich ein Dutzend derbster Flüche aus seiner Heimat, wenn er über die Infamie dieser heimtückischsten aller Mordwaffen spricht. Mit einer Hand fuchtelt er die Moskitoschwärme weg, die der Monsunregen in seine alte Kolonialvilla gescheucht hat. „Wir kämpfen hier gegen Windmühlen“, schimpft er. „ Es gibt kaum Lagepläne der verlegten Minen. Jeden Millimeter des Landes müssten wir abtasten.“ Eine Rechnung mit millionenfachen Unbekannten und einem krassen Missverhältnis: „Eine Mine zu kaufen kostet drei Euro, sie zu räumen tausend Euro.“

Das Verlegen von Minenfeldern dauert Minuten, sie anschließend zu orten und zu entschärfen Jahre. Moderne Technologien stehen kaum zur Verfügung, und verminte Wohngebiete und landwirtschaftliche Flächen müssen vollständig geräumt werden, um sie für Menschen wieder nutzbar zu machen.

Trotz Räumprogrammen ist eine vollständige Beseitigung der Minen nach Jahrzehnten von Krieg und Bürgerkrieg in Kambodscha in den nächsten Jahren nicht möglich. Nach Schätzungen von Experten wie der UNO, MAG oder Handicap International wird es in diesem südostasiatischen Land noch Jahrzehnte dauern, bis es minenfrei ist. Manche gehen von bis zu fünfzig Jahren aus. Denn die Arbeit geht langsam voran. Im Schnitt schafft ein Minensucher fünfzig Quadratmeter am Tag.

Zusätzlich wird die Räumung dadurch erschwert, dass kambodschanische Bauern ihre Felder und Häuser verminen, um ihren Besitz vor Banditen zu schützen. „Manchmal wissen diese Menschen am nächsten Morgen nicht mehr, wo sie die Minen vergraben haben, und finden sie erst, wenn sie drauftreten“, sagt Hayter.

Sat Samon wartet auf den Sprengmeister, der die Mine beseitigen wird. Er legt sich in den Schatten einer Kokospalme, nimmt seine Prothese ab und reibt sich den schmerzenden, wund gescheuerten Beinstumpf. Die Schönheit der kambodschanischen Landschaft mit den smaragdgrünen Reisfeldern, Kokospalmen und Bambushütten lässt die tödliche Gefahr vergessen, die in der Erde schlummert. Samon ist schüchtern, und um dies zu verbergen, lächelt er gerne und viel. „Natürlich habe ich Angst,“ sagt er, „jeden Tag.“ Aber er wolle nicht, dass in Zukunft anderen das Gleiche wie ihm passiere. „Und es ist der beste Job, den ein Krüppel bekommen kann“, fügt er hinzu. Etwa 200 Dollar verdient Samon im Monat. Rund das Vierfache des Durchschnittseinkommens eines Kambodschaners.

„Die Menschen in Kambodscha haben gelernt, mit der Gefahr zu leben,“ erklärt ein kleiner gedrungener Mann auf einem Minenfeld in der Nähe der thailändischen Grenze. Vor ihm liegt eine Landkarte, in der die Gefahren eingezeichnet sind. Nah Nhordom ist Leiter für MAG in der Provinz Battambang. Der Mann steht unter Druck. Die Felder müssen bestellt und geerntet werden, dass Vieh muss auf die Weide. Battambang hat die höchste Dichte an Landminen in Kambodscha. Vor den Reisfeldern sind unzählige rot leuchtende Schilder angebracht. Ein weißer Totenkopf grinst die Bewohner auf den Schildern an. Darunter steht groß: „Danger! Mines!“ Kambodschaner haben tatsächlich gelernt, mit der Gefahr zu leben – besser gesagt, sie zu ignorieren.

Kinder spielen zwischen den roten Schildern, Frauen in bunten Wickelröcken arbeiten in verminten Reisfeldern. Jeder Gang zur Schule oder zur Arbeit ist russisches Roulette. Ab und zu verliert ein Bauer seine Lebensgrundlage, wenn eine Mine seine Kuh beim Weiden zerfetzt, eine Familie manchmal ihren Sohn oder die Tochter, wenn sie nach einer Explosion draußen auf dem Feld verbluten. Das Leben der Überlebenden geht weiter, weil es weitergehen muss.

Die Armut zwingt viele Menschen, unkalkulierbare Risiken einzugehen, um ihre Familien zu ernähren. Sie durchforsten Wälder, Dschungel und Reisfelder nach dem tödlichen Erbe des Krieges – Minen, Raketen und Mörser. Sie entfernen unter Lebensgefahr den Sprengstoff und verkaufen diesen auf den Schwarzmärkten der Hauptstadt Phnom Penh. Warum auch nicht? „Ein hungriges, schreiendes Kind kann sehr überzeugend sein“, sagt Nah Nhordom.

Der Sprengmeister erscheint und begutachtet die Mine – russischer Typ PMN-2. Ein Stück rundes, hellgrünes Plastik, 54 Millimeter hoch, 125 Millimeter Durchmesser, 450 Gramm schwer. Er legt TNT-Sprengstoff in das Loch, in dem sie freigelegt wurde und vernichtet sie. Der Knall rollt über den kambodschanischen Dschungel. Der beißende Geruch von Schwefel liegt in der Luft.

Schwerfällig erhebt sich der junge Mann aus dem Schatten, Sat Samon legt seine Prothese an und geht wieder an die Arbeit. Mit einer Sichel schlägt er sich durch den Dschungel. Immer wieder unterbricht er die Arbeit, weil der Metalldetektor ausschlägt. Er fängt an zu graben, findet rostige Nägel, Patronenhülsen und Konservenbüchsen – der Boden ist voll von altem Metall, nicht nur mit Minen. Zentimeter für Zentimeter kämpft Samon sich durch seine Heimat.