Leitkultur auf Türkisch

Trotz mehrerer Reformen werden Minderheiten in der Türkei noch immer gegängelt. Der türkische Nationalismus behindert auch eine wirkliche Integration in Deutschland

Seit Helsinki ist der Reformeifer in der Türkei stark erlahmt, Justiz und Verwaltung bleiben betonköpfigKurden-Politiker stehen noch immer vor Gericht. Doch die türkische Presse schweigt dazu nur

Vergangenen Herbst beschloss die hessische Gemeinde Dietzenbach, dass in ihren zwölf Kindergärten zur „Förderung der Integration“ nur noch Deutsch gesprochen werden sollte. Tagelang mobilisierte die Hürriyet, das auflagenstärkste türkische Blatt in Deutschland, daraufhin voller Empörung ihre Leser gegen diese Verfügung. Ironischerweise aber nannte es sie ein „kemalistisches Modell“ – nach einem der „Kemalismus“ genannten Prinzipien des Staatsgründers Atatürk, auf denen bis heute das Staatsverständnis der Türkei beruht.

Als Atatürk und seine Mitstreiter 1920 die türkische Republik gründeten, waren sie mit dem Problem konfrontiert, aus den vielen Nationen des ehemaligen Weltreiches der Osmanen eine neue Nationalität zu schaffen. Atatürk entschied sich für den Vorrang der türkischen Nation und Sprache und sah darin den sichersten Weg, aus der Türkei einen modernen, zentralistischen Einheitsstaat zu machen. Das Ideal richtete sich nach der französischen Vorstellung des Citoyens: Jeder, der einen türkischen Pass besitzt, ist Türke, ungeachtet seines ethnischen oder sprachlichen Hintergrunds. Doch in der Realität begann für die anderen Nationalitäten damit die Unterordnung unter die türkische Kultur und Sprache.

Damit begann eine Politik der Assimilierung, in deren Zuge die Namen ganzer Dörfer und Städte, ja sogar Bezeichnungen von Flora und Fauna „turkisiert“ wurden. Legionen von Sprachwissenschaftlern und Universitätsprofessoren gaben sich dazu her, die kurdische Sprache, die zur indogermanischen Sprachfamilie gehört, in einen türkischen „Bergdialekt“ umzudeuten und das ganze dazugehörige Volk zu „Bergtürken“ abzustempeln. Jahrzehntelang wurde in der Türkei die bloße Existenz ethnischer Minderheiten geleugnet, und wer von ihnen sprach, der handelte sich den Vorwurf ein, sie erst zu „schaffen“.

Trotz mehrerer Reformen, die in jüngster Zeit mit Blick auf die EU erlassen wurden, hat sich die Vorstellung vom Vorrang einer türkischen Leitkultur in vielen Bereichen bis heute gehalten. Ein Beispiel dafür bietet der Prozess gegen elf Männer und zwei Frauen, die zuletzt am 15. Dezember in Ankara vor Gericht standen. Sie sind Vorstandsmitglieder der „Partei für Grundrechte und Freiheiten“ (Hak-Par), die sich für eine friedliche und föderalistische Lösung der Kurdenfrage in der Türkei einsetzt. Von der militanten Guerilla der PKK werden sie als Verräter beschimpft, weil sie den Kampf mit der Waffe ablehnen, vom Staat werden sie wegen ihres Eintretens für die Kurden als Separatisten betrachtet. Zu einem Kongress im Januar 2004 hatten sie Einladungskarten in türkischer und kurdischer Sprache verfasst und die Begrüßungsrede auf Kurdisch gehalten. In der Türkei ein schweres Vergehen: Denn auch nach den Reformen vom August 2002 gilt noch immer ein Gesetz, das Parteien den Gebrauch der kurdischen Sprache verbietet und untersagt, sich nur einer bestimmten ethnischen Gruppe verbunden zu fühlen.

Die türkische Presse schweigt zu solchen Fällen und hat auch den Hak-Par-Prozess mit kaum einer Silbe erwähnt. In der Türkei wird die gemeinsame Sprache bereits in der Verfassung als Faktor der Integration angesehen: Türkisch hat die Muttersprache aller türkischen Staatsbürger zu sein. Dieses Sprachgebot hat sogar zu so lächerlichen Maßnahmen geführt wie dem Verbot von Buchstaben, die im Kurdischen, nicht aber im Türkischen vorkommen – etwa dem q, x und w.

Die Erziehung zu einem nationalen Gemeinsamkeitsgefühl beginnt in der Türkei bereits in der Grundschule mit dem Absingen der Nationalhymne am Anfang und Ende jeder Woche. Sie setzt sich fort in den Schulbüchern, die vor Nationalismus und der Verherrlichung des Türkentums nur so strotzen, und findet sich überall im Lande – vor Kasernen, Schulen, auf städtischen Plätzen – auf Plakaten und Spruchbändern verewigt in der Losung wieder: „Wie glücklich ist der, der sagen kann: Ich bin ein Türke!“ Trotz aller Reformen haben sich noch immer etliche Beispiele für Maßnahmen zum Schutze der „nationalen Einheit“ gehalten: darunter etwa das Verbot für Offiziere, mit einer nichtmuslimischen Ausländerin verheiratet zu sein, das vom starken Misstrauen gegen Christen und Ausländer zeugt.

Die Vorstellung einer türkischen Leitkultur und der damit einher gehende Nationalismus sind besonders tief im kemalistischen Militär, in Justiz und Verwaltung verankert, finden sich aber auch in der Mehrheit der Bevölkerung wieder. Alles Drängen der EU auf ein Umdenken und Reformen hat daran nicht viel geändert, und seit Helsinki ist der Reformeifer in der Türkei wieder deutlich erlahmt. So werden etwa den neuen Bestimmungen, die den freien Gebrauch regionaler Sprachen und somit auch des Kurdischen in der Öffentlichkeit sowie den Unterricht gestatten sollen, so viele und geradezu lächerlich beschämende Hindernisse in den Weg gelegt, dass von einer großen Verbesserung auf diesem Gebiet keine Rede sein kann.

Obwohl ihr Land wegen solcher Defizite jedes Jahr mehrfach vom Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte – und aktuell auch wieder im „Fortschrittsbericht“ der EU – gerügt wird, maßen sich türkische Offizielle immer wieder gerne an, der deutschen Politik eine „Lektion“ zu erteilen. So erklärte der türkische Botschafter in Berlin, Mehmet Irtemcelik, angesichts des umstrittenen Einbürgerungstests in Baden-Württemberg ungeniert, er sei in sehr großer Sorge um die Menschenrechte in Deutschland. Auch gegen den Kita-Beschluss in Dietzenbach protestierte er prompt. Dabei herrscht in der Türkei selbstverständlich an allen Kindergärten und Schulen eine strikte Türkischpflicht – auch in kurdischen Gebieten, wo oftmals alle Schüler Kurden sind.

Die Heuchelei des türkischen Botschafters und der Hürriyet wird von Vereinen und Organisationen geteilt, die mehr oder weniger offene Lobbyarbeit für Ankara betreiben. Mit ihrem Nationalismus und ihrem Atatürk-Kult tragen sie dazu bei, die Bindung an die alte Heimat wachzuhalten, und verhindern damit, dass türkische Migranten hierzulande Wurzeln schlagen. Was soll es denn bringen, in einem der 39 „Atatürk-Gedenk-Vereine“ tätig zu sein, wenn jemand seine Zukunft in Deutschland sieht? Was nutzt es Kindern, jedes Jahr zum 23. April beim aus der Türkei importierten „Kinderfest“ in Städten wie Hamburg oder Berlin türkisch-nationalistische Gedichte und Gesänge vorzutragen, die Atatürk und das Türkentum verherrlichen, und türkische Fähnchen zu schwingen – wenn sie doch hier aufwachsen und ihr Leben in Deutschland verbringen wollen?

Diese „Türktümelei,“ die einem unseligen türkischen Nationalismus entspringt, trägt nicht zur Eingliederung in diese Gesellschaft bei. Es ist nicht nur die andere, den Migranten so wichtige Religion, die beide Gesellschaften trennt. Es ist auch der Kemalismus, der türkische Nationalismus, der in Deutschland seine Blüten treibt und eine tatsächliche Integration behindert. IRINA WIESSNER