Tempolimit auf dem Dancefloor

Das Dancefloor-Universum ist unübersichtlich, doch ein Trend gilt genreübergreifend: Die Beats werden langsamer. Ob Dubstep, Beardo House oder der Hiphop-Stil Screwed & Chopped: Produzenten entdecken die Freuden der Entschleunigung

Die Evolution der Sample-Kultur kann auch als eine verborgene Geschichte der Geschwindigkeiten erzählt werden Angesichts der Botschaft vor dem Bass-Altar läuft der Glaube an den Fortschritt einer sich immer schneller drehenden Welt ins Leere

VON UH-YOUNG KIM

In den nerdigen Winkeln des Internets hat sich jemand die Mühe gemacht, einen Stammbaum der elektronischen Dance Music zu erstellen (www.di.fm/edmguide). Darin führen sieben Hauptstränge zu etlichen Subgenres, die miteinander verbunden, launig kommentiert und mit passenden Klangbeispielen versehen sind. Man kann zum Beispiel zurückverfolgen, wie sich Ghettotech um acht Ecken aus House entwickelt hat, oder hören, wie sich Terrorcore von Speedcore unterscheidet.

Eine Landkarte der Sample Kultur könnte tatsächlich so aussehen wie hier: ziemlich unübersichtlich. Zudem differenziert sich das Reich der Dance Music immer weiter aus. Dennoch kristallisiert sich aus diesem polyrhythmischen Gewusel gerade eine Tendenz heraus, die über Genregrenzen hinweg eine neue Art von Zusammenhang innerhalb der zerfallenen Landschaften stiftet: Die Beats werden langsamer. Ob es das Londoner Garage-Hybrid Dubstep ist, das im vergangenen Jahr die kritische Masse erreichte und über die Grenzen des Vereinigten Königreichs nach Kontinentaleuropa schwappte; ob es der Neo-Disco-Sound des sogenannten Beardo House ist, der in den Clubs von Berlin bis Ibiza immer beliebter wurde; oder ob es die zeitlupenhaften Screwed-&-Chopped-Versionen sind, mit denen Rapper aus dem Süden schon seit einigen Jahren die U.S.-Charts bespielen.

Die Evolution der Samplekultur kann auch als eine verborgene Geschichte der Geschwindigkeiten erzählt werden. Die hierfür maßgebende Einheit heißt beats per minute, kurz: bpm. Sie gibt den Takt vor und bestimmt, ob zu einem Rhythmus lässig mit dem Kopf genickt, sexy die Hüfte geschwungen oder außer sich geskankt wird. Nicht nur der kreative Spielraum eines Genres wird durch die bpm abgesteckt. Sie reflektieren auch die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen und das utopische Potenzial der Musik.

So unterlag auch die Sample-Kultur in den Neunzigern der herrschenden Obsession mit der Beschleunigung. Auf der Überholspur des Datenhighways ging es in flirrender MTV-Ästhetik und angefeuert von Drum & Bass höher, schneller und weiter in die Zukunft. Je näher das Fin de Siècle rückte, desto rasanter mussten die Informationen fließen. Mit Drum & Bass schien in der zweiten Hälfte der Neunziger eine ästhetische und kommerzielle Grenze erreicht. Kaum vorstellbar war es, dass Beats noch rasanter, komplexer und dichter geschichtet und dabei noch als Popmusik verwertet werden könnten. Angekommen im Millennium erstarrte der Sound in seinen eigenen Standards.

Ein paar Jahre und untergegangene Szenen später macht sich nun der gegenläufige Trend bemerkbar. Neben der relativ niedrigen bpm-Zahl ist den jüngsten Tempodrosslern gemeinsam, dass sie aus der Peripherie der Metropolen stammen. Lindstrøm und Prins Thomas, zwei gefeierte Vertreter des Beardo House, wohnen im beschaulichen Oslo. Und abseits der bekannten Hiphop-Epizentren der amerikanischen Ost- und Westküste konnte sich Screwed & Chopped ungestört in Houston entwickeln. Und während sich der UK-Garage-Hybrid 2Step in Zentrallondon zu Tode kommerzialisierte, formierte sich im südlichen Vorort Croydon ein Netzwerk, das den Nachkommen Dubstep in die Welt setze. Alle haben ihre Stilderivate durch die Langsamkeit intensiviert und sich so von ihren Vorgängern emanzipiert.

Als die versammelte Spitze der Londoner Dubstep-Szene um Wunderkind Skream und Mastermind Loefah neulich in Köln gastierte, war das Publikum durchmischt wie selten: Unter einer Volldröhnung Bass waren hier Drum-&-Bass-Hüpfer und Hiphop-Kapuzen mit angegrauten Industrialnerds, Dreadlocks und sogar einem headbangenden Metal-Fan vereint. Sie alle sind an diesem Abend Teil des Hardcore Continuums gewesen, wie Martin Clark vom Blackdown-Blog die Evolutionsmatrix aus Jungle, UK Garage, 2Step, Grime und Dubstep bezeichnet. Wenn House die Rache von Disco war, ist Dubstep die Nemesis des Breakbeat.

In dieser postgeografischen Instrumentalmusik übernimmt der Bass eine narrative Funktion: Plastisch schwellt er an und ab, wobbelt als perkussives Element durch die spartanisch arrangierten Tracks und ersetzt dabei Worte wie auch die Schnelligkeit als antreibenden Motor. Der physische Angriff seines majestätischen Einschlags versetzt die Crowd auf der molekularen Ebene direkt in Bewegung. Schleppend folgt die Kick auf die Snare – eine Ewigkeit für Clubmusikverhältnisse vergeht zwischen den Ereignissen. Die Technik des Weglassens ist der Dub-Ästhetik der Siebziger entliehen. So entsteht das Gefühl der Weite und Losgelöstheit – oder das, was der Dubstep-Produzent Burial den „thousand yard stare“ nennt. In die luftige Leerstelle treten düstere Industrial-Sounds oder mystische Reggae-Roots-Akzente. Nicht zuletzt befreit sich in dem unbesetzten Terrain auch der tanzende Körper. Bleibt ihm im Techno nur Zeit zum gleichgeschalteten Marsch durch die Nacht, kann er sich bei Dubstep im Halftime-Groove wiegen oder zu den niederprasselnden Hihats auf doppelter Geschwindigkeit tänzeln. Denn der hektische Swing des direkten Dubstep-Vorfahren UK Garage ist einfach halbiert: aus 140 sind 70 bpm geworden.

Einige Jahre zuvor hat sich im Süden der USA. ein entfernt verwandter Hiphop-Stil mit denselben bpm, aber anderen Ambitionen entwickelt. Screwed-&-Chopped-Rapper wie Paul Wall oder David Banner knacken heute regelmäßig die Platingrenze. Selbst Justin Timberlake kommt nicht daran vorbei, seine Balladen mit ein paar Versen im Screwed-Style zu garnieren.

Vor zehn Jahren wandte DJ Screw – Erfinder und Namensgeber des Stils – die Remixtechnik der Verlangsamung erstmals an, um nächtliche Autoromanzen mit dem entsprechenden Soundtrack zu beliefern. 2000 verstarb er an einer Drogenüberdosis. Die zeitlupenhafte Psychedelik von Screwed & Chopped ist direkt auf „Sizzurp“ zurückzuführen – ein Hustensaft ähnliches, purpurnes Getränk, das das Opiat Kodein enthält, die Wahrnehmung dehnt und zu Halluzinationen führen kann. Ähnlich wie bei Dubstep hat auch Screwed & Chopped einen schnellen Vorfahren: die so genannte Booty Music aus den Stripclubs. Spaßattitüde und Drum-Sounds aus der Old-School-Electro-Ära wurden übernommen. Die Beats sind um die Hälfte verlangsamt, minimal und repetitiv, während schnelle Hihat-Figuren über die radikal zurückgelehnten Rhythmen sprinten.

Hat die Verlangsamung im Screwed & Chopped eine Intensivierung des Bounce, das heißt der Schwerkraft des Beats, zur Folge, geht es im Beardo House wiederum mehr um angestautes Wissen, das sich nun in Ruhe entfalten kann. Nachdem die klassischen Gebiete der Dance Music amerikanischer und britischer Prägung mit wissenschaftlicher Akribie aufgearbeitet waren, wandten sich Spätjünger des Loft-DJs Larry Levan mit gleichem Eifer der kontinental-europäischen Historie zu. Dabei wurde ein zuvor vernachlässigtes Schlaraffenland aus obskurem Material erschlossen, das in den Spätsiebzigern und Frühachtzigern zwischen Gardasee und München aufblühte. So wurden Klassiker und Raritäten der Italo Disco neu entdeckt und schlossen sich mit dem distinguierten Disco-House-Entwurf von New Yorker Gallionsfiguren wie Morgan Geist kurz.

Die Tracks von Lindstrøm, Todd Terje und dem Gomma Label sind inspiriert vom Erbe des Cosmic Sound der Adriaküste: Lofthymnen und Funkstücke, Krautrock und Afrobeat, Industrial und Elektronik der Siebziger sind die Zutaten des manieristischen Stils, der mit etwa 100 bpm gut 30 Zähler langsamer war als die heutige Boutiquenbeschallung. Bei der Fülle der Verweise ist mehr Platz zwischen den Schlägen angebracht, um das historische Erbe der Slow Motion Disco adäquat zu aktualisieren. Der Überhit des Subgenres heißt folgerichtig „I Feel Space“ von Lindstrøm.

Nach Kuhglockenexzessen und New-Wave-Hysterie stellt die connaisseurhafte Haltung der bärtigen House-Geeks eine willkommene Abwechslung im Club dar. Beim nächtlichen Einsatz müssen DJs dem Impuls widerstehen, die Platten im Laufe eines Sets immer schneller zu pitchen – sonst groovt es nicht mehr. So verweigert sich der Beardo House dem Höher-Schneller-Weiter-Mantra einer maßlos gewordenen Clubkultur.

Von Verweigerung kann indes bei Screwed-Stücken nur strukturell die Rede sein. Die Texte drehen sich um Partyanimation und Machogehabe im pubertären Statusabgleich. Durch das langsame Tempo und den rohen Minimalismus der Produktionen aber entsteht eine Aura der unantastbaren, fast schon faulen Coolness, die sich dem Leistungsimperativ der Gesellschaft und den glatt gebügelten Signalsounds der Mainstream-Formate entzieht – was den Stil umso attraktiver für den nach neuen Authentizitätsmodellen geifernden Markt macht.

Den Versuchungen der Massenverwertung widersteht die Dubstep-Szene nun schon seit sechs Jahren. Sperrig, gespenstisch und düster ist der Sound größtenteils geblieben. Als ob jeder übereilte Schritt das Ende des zarten Pflänzchens bedeuten könnte, öffnet sich Dubstep erst vorsichtig anderen Einflüssen aus dem Schmelztiegel Londons – darunter aber sogar Folk, wie ihn die Gruppe Various eingebunden hat. Aber die Niedergänge von Jungle, 2Step und jüngst Grime warnen deutlich davor, in den Strudel des Ausverkaufs gerissen zu werden.

So ist der in Koks und Champagner ersoffene Hedonismus des späten 2Step nun der grasbenebelten Paranoia und Kontemplation unterhalb der 50 Hertz Frequenz gewichen. In den Tracks von Künstlern wie Kode9 + The Spaceape etwa entsteht eine Dystopie aus dunklen, verfallenen Straßenzügen wie aus einer Begegnung von Linton Kwesi Johnson mit Tricky. Aus der Sound System Kultur heraus eröffnet sich dabei eine Linie zum Triphop der frühen Neunzigerjahre. Im Gegensatz zum Rückzugsort von Portishead etwa ist jedoch die Düsternis der Dubstepper offensiv gewendet – ihr Blick geht zum Horizont.

Angesichts der zellerschütternden Botschaft vor dem Bass-Altar läuft der allgemeine Fortschrittsglauben einer sich immer schneller drehenden Welt ins Leere. Die blinde Beschleunigung eines Lebens, in dem jedes Bedürfnis unmittelbar befriedigt wird, simuliert ein Weiterkommen bloß noch, während man eigentlich auf der Stelle tritt oder gar zurückfällt. Um sich aus dieser Lähmung zu befreien, setzt Dubstep seine Potenziale langsam in Gang. Als ob die Samplekultur erst wieder lernen müsste, auf ihren eigenen Beinen zu stehen, um voranschreiten zu können. Jede Bewegung braucht nun mal ihre Zeit.