Leben in geliehenen Bildern

Erinnern, was nie wirklich geschehen ist: Mit der Bedeutung des Films für das biografische und kollektive historische Gedächtnis setzte sich eine Gesprächsrunde im Filmmuseum Berlin auseinander. Erinnerung und Realität sind sich bestenfalls ähnlich

VON INES KAPPERT

Eine authentische Erinnerung an das Vergangene, die gibt es nicht. Alle vier am letzten Sonntag vom Einsteinforum und dem Filmmuseum Berlin zur Podiumsdiskussion „Errettung der Erinnerung? Der mediale Blick auf die Vergangenheit“ eingeladenen ProfessorInnen waren sich einig: Erinnerung ist eine Konstruktion. Und zwar eine, die grundsätzlich dazu dient, Ereignisse weniger abzubilden, als im Rückblick kohärent zu machen, also mit einer Sinnhaftigkeit zu versehen.

Das ist insofern eine provokante These, da die Geschichtsaufarbeitung, sei es im Museum oder im Film und im Fernsehen, mehr denn je auf Erinnerungen von Zeitzeugen setzt, und zwar als wahre, nicht weiter zu diskutierende Aussagen. Erinnerungen aber, so führte etwa der Hirnforscher Hans J. Markowitsch aus, sind nicht objektiv, sondern strukturell abhängig vom aktuellen individuellen Befinden, äußeren Reizen und, wichtiger noch, von der Bewertung: Was finde ich heute wichtig, was unwichtig?

Zudem sei das Hirn als solches nicht besonders zuverlässig. Einen Hinweis darauf gibt eine Studie, bei der Probanten 20-minütige Filme gezeigt werden. Unmittelbar darauf führt man ihnen einzelne Filmstills vor mit der Bitte, zu beurteilen, welche zu dem zuvor gesehen Film gehören und welche nicht. Die Fehlerquote liegt bei durchschnittlich 44 Prozent. „False Memory“, falsche Erinnerung, lautet dafür der Fachbegriff für die Verfehlung in bester Absicht.

Erinnerung und Realität stehen also bestenfalls in einer Ähnlichkeitsbeziehung zueinander, pointierte die an der FU lehrende Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch. Das aber dürfe die individuelle Erinnerung nicht diskreditieren, sondern verlange, ihre (wissenschaftliche) Behandlung nicht mehr vorrangig an den Kriterien wahr oder falsch, authentisch oder kopiert auszurichten. Erforderlich wird somit eine explizit den Film als Medium berücksichtigende Lektüre, also eine, die begreift, worin die spezifische Symbolleistung des Film besteht. Eine Forderung, die weit reichende Konsequenzen, nicht zuletzt für den Umgang mit gefilmten Zeitzeugenaussagen hat.

Anders also als der Titel der Veranstaltung vermuten ließ, wurde die Erinnerung in der zwei Stunden dauernden Diskussion keineswegs vor ihrer massenmedialen Verwertung gerettet. Stattdessen war das Ziel, angesichts ihrer aktuell unhintergehbaren Verflochtenheit, neue Perspektiven darauf zu entwickeln. So stellte Koch mit der ihr eigenen Autorität gleich zu Beginn die eigentlich wesentlichen Fragen: Welche Rolle spielt der Film für die Erinnerung an mein Leben? Warum und wie genau projiziere ich meine persönlichen Erinnerungserfahrungen in ihn hinein? Und glaube mich in Situationen wiederzuerkennen, die mir niemals widerfahren sind? Wie kommt es, dass Zeitzeugen häufig Filmbilder in ihre eigene Erinnerung einflechten, ohne es zu merken?

Wie oft bei Podiumsdiskussionen gelang es nicht, mehr als Fragen aufzuwerfen und Thesen in den Raum zu stellen. Aber, so merkte der schwerpunktmäßig mit der Erforschung des sozialen und autobiografischen Gedächtnisses beschäftigte Sozialpsychologe Harald Welzer gut gelaunt an, Aneinandervorbeireden gehöre nun mal zum Geschäft. Schließlich: Wer erinnert schon ordentlich, was der andere gerade gesagt hat?

Womit sich Welzer indessen nicht zufrieden geben wollte, war das Ausbleiben einer Erläuterung, warum der Film und nicht das Theater, die Musik oder die Literatur derzeit das probateste Mittel für eine Erinnerungsarbeit ist, sei sie kollektiv oder individuell. Koch leider wich an dieser Stelle aus; der Moderator Rainer Rother merkte charmant selbstironisch an, dass man als Leiter des Filmmuseums schließlich Werbung für den Film machen müsse. Daher gab Welzer am Ende selbst erste Ansätze zur Beantwortung der von ihm gestellten Frage: Zunächst einmal darf man die Bildern unterstellte Beweiskraft nicht unterschätzen. In seiner Verbindung von Bild und Ton ist der Film für uns das Aufzeichnungsmedium schlechthin geworden, der darüber hinaus wie kein anderes Medium Kunst und Wissenschaft miteinander verwebt. Jenseits dessen stimuliert die eingesetzte Figuren- und Gebärdensprache das im Körper eingelagerte Tiefengedächtnis. Weil er all diese Register gleichzeitig zu ziehen wisse, formatiere Film wie kein anderes Medium unser Gedächtnis, ebenso wie unsere Erinnerung. Das Ergebnis formulierte Welzer so: Der Holocaust wird in der Regel in Schwarz-Weiß erinnert.