Was keimt denn da?

Nun wollen auch die Grünen ihr Programm stärker auf Familien ausrichten. Wie bitte passt das zu einer Partei, die einst für einen radikalen Bruch mit der patriarchalen Kleinfamilie eintrat?

VON HEIDE OESTREICH

Nein, den arg adenauerisch tönenden Satz „Familie ist für uns ein Wert an sich“ strichen die Grünen gestern in Wörlitz dann doch lieber wieder aus ihrem neuen Strategiepapier. Aber es sind auch noch genug andere übrig: „In der Familie können Verantwortung und Solidarität gelernt und erlebt werden“, „in Familien bestehen Bindungen über Generationen hinweg, erwachsene Kinder kümmern sich um ihre alten Eltern, Großeltern um ihre Enkel“. Und Ekin Deligöz spricht im Radio von der „Keimzelle der Gesellschaft“ – garniert mit einem genierlichen „sozusagen“.

Beim Wettlauf um die zuckrigste Umgarnung der Familien hatten die Grünen bisher nicht mitgemacht, jetzt aber donnern sie gleich auf der Überholspur los. Man kann ihnen nicht wirklich übelnehmen, dass sie dieses Wählerstimmen generierende Feld nicht einfach unbestellt lassen, und gleichzeitig verspürt man so ein leises Reißen im Innern. Gibt es denn für die Grünen so gar keinen Grund mehr, der Familie an sich kritisch gegenüberzustehen?

Man muss sich vielleicht kurz vergegenwärtigen, von wo aus die Grünen familienpolitisch einst starteten. Im Nach-68er-Milieu, aus dem zumindest die Linke bei den Grünen stammt, atmeten noch die Geister von Horkheimers „Autorität und Familie“ oder der „sexuellen Revolution“ von Wilhelm Reich. Im legendären Kursbuch 17 von 1969 zu „Frau – Familie – Gesellschaft“ heißt es: „Die durchschnittliche Kleinfamilie produziert anlehnungsbedürftige, labile, an infantile Bedürfnisse und irrationale Autoritäten fixierte Individuen. Nur der radikale Bruch mit der überkommenen Dreiecksstruktur der Familie kann zu kollektiven Lebensformen führen, deren Ziel die Schaffung eines neuen Menschen in einer revolutionierten Gesellschaft ist.“

Grünen-Wähler der ersten Stunde lebten vielleicht nicht mehr in sexuell befreiten Kommunen, aber die Wohngemeinschaft, das Haus- oder Hofprojekt, das waren durchaus gültige Leitbilder für ein Zusammenleben, das dem Horror der Kleinfamilie entgehen sollte. Politisch war das Thema Familie bei den Grünen, wie bei allen Parteien, an die Frauen delegiert. Und die hatten nicht nur autoritäre Väter zu verarbeiten, sondern auch noch patriarchale Lebenspartner. Noch 1989 erwogen die grünen Frauen eine Kampagne zur Abschaffung der Ehe. 1990 nannten sie ihre Bundesfrauenkonferenz „Los und Ledig – Gegen die Orientierung von Frauen am Mann und seinen Taten“, und im zugehören Reader heißt es: „Theoretisch ist klar, dass das Rechtsinstitut Ehe in der patriarchalen Gesellschaft vor allem dazu dient, die Zwangsheterosexualität als Struktur in den persönlichen Beziehungen der Menschen zu verankern.“ Bitte schön.

Gegen eine solche Autonomisierung der grünen Frauen, die letztlich für ein Zusammenleben von Vätern, Müttern und Kindern überhaupt kein politisches Konzept anboten, hatte sich in den Achtzigern eine Gegenbewegung gebildet: Die Mütter. In einem legendären „Müttermanifest“, forderten sie einen Grundlohn für die Reproduktionsarbeit und Mütterzentren, in denen Mütter ihre Isolation im Privathaushalt überwinden könnten. So lange die Arbeitswelt nicht umstrukturiert sei und die Männer nun mal nicht die Hälfte der Hausarbeit übernähmen, müssten derartige Zwischenlösungen gefunden werden, so ihre Forderung.

Für die Frauenpolitikerinnen, die sich prompt mit einem Gegenmanifest meldeten, las sich das wie eine Zementierung des konservativen Familienmodells. Nach langen Auseinandersetzungen wurden die Mütter weitgehend überstimmt – und die Frage nach einem familiären Zusammenleben war zwischen autonomen und befreiten Individuen erneut verschwunden, die bei den Grünen relativ oft aus kinderlosen Frauen bestanden. Die schüttelten den Staub der Familienpolitik von den Schuhen und subsumierten diese fortan konsequent unter Gleichstellungspolitik: Beruf und Familie sollten für Frauen und Männer vereinbar werden.

Noch im Grünen-Grundsatzprogramm 2002 kommt die Familie so vor: „Wir wollen Nachteile ausgleichen, die durch Kindererziehung entstehen. Zugleich nimmt die Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen zu. Die klassische Kleinfamilie wird seltener, und die Scheidungsraten steigen. Neue Lebensgemeinschaften sind entstanden. Auch die Zahl der Single-Haushalte nimmt zu. Wir unterstützen die unterschiedlichen Formen solidarischen und partnerschaftlichen Zusammenlebens …“

Das Grundsatzprogramm ist ohnehin aufschlussreich: Die grüne Sozialpolitik soll nichts weniger als bürgergerecht, zugangsgerecht, kindergerecht, generationengerecht, jugendgerecht, geschlechtergerecht, behindertengerecht und sogar versichertengerecht sein – Familiengerechtigkeit kommt nicht vor. Die Grünen wollten bisher lieber alle Individuen und deren Zusammenleben fördern, als den konservativ verseuchten Familienbegriff auch nur ins Auge zu fassen.

Sie hatten bisher, wie es der Grünen-Forscher Joachim Raschke konstatiert, eine Politik der „Lebensformen“ etabliert, die neben Schwulen und Lesben „nichteheliche Lebensgemeinschaften, das Leben mit Kindern, Alleinlebende, Alleinerziehende, Wohngemeinschaften (mit und ohne Kinder) oder alternative Wohnprojekte“ umfasst. Das war ihr Gesellschaftsbild – und das war das Milieu ihrer WählerInnen.

Und damit haben wir natürlich auch den Schlüssel zu dem neuerwachten Interesse an der Kleinfamilie gefunden. Voller Staunen muss nämlich Renate Künast in einem Interview feststellen: „Die Erfahrung zeigt: Am Ende übernehmen die Menschen doch zu zweit Verantwortung.“ Dabei sind die Scheidungszahlen seit der grünen Grundsatzanalyse weiter gestiegen, und auch die Zahl der Alleinerziehenden ist nicht zurückgegangen. Aber da sind eben noch die WählerInnen. Zum einen gibt es unter den jetzigen Wählerinnen schon genügend Kleinfamilien, zum anderen gibt es in Richtung Mitte noch viel mehr Kleinfamilien zu entdecken. Und zum Dritten sind Familien heute derart angesagt, dass eine Partei ohne Familienpolitik kalte Füße bekommt.

Muss man davon nun genervt sein? Dass die Grünen sich so opportunistisch anbiedern? Noch nicht. Denn zum einen darf auch eine Partei gelegentlich zur Kenntnis nehmen, dass nicht mehr alle Kleinfamilien der Hort des autoritären Staates und die Reproduktionsstätte des Patriarchats sind. Die Grünen betreiben so auch Realitätsanerkennung: Wer Autoritarismus und Patriarchat nicht will, verabschiedet sich damit nicht automatisch in die vielzitierten neuen Lebensformen, sondern versucht unter Umständen, innerhalb des Modells Familie etwas zu verändern. Dem darf auch eine grüne Partei sich widmen.

Auch integrieren die Grünen – zumindest in ihrem Papier – die Familienpolitik ausdrücklich in eine Politik der Lebensformen. Wenn Familie überall da ist, „wo Menschen auf Dauer Verantwortung füreinander übernehmen“, wie die Grünen nun schreiben, hat das sogar den Charme der interessanten Neubesetzung eines kontaminierten Begriffs. Zudem lassen sie die Kinder, Mütter und Väter nicht allein in ihrer gefährlichen Beziehungsform, sondern setzen weiter auf unterstützende Netzwerke und Infrastruktur. Genervt sein sollte man also erst, wenn die konkreten politischen Konzepte hinter diese hohen Ansprüche zurückfallen.