Das raue Erwachen Tibets

Der Schweizer Luc Schaedler erzählt in „Angry Monk“ von dem rebellischen Lama Gendun Choephel

Für den Westen ist Tibet immer noch das spirituelle Eldorado, das über den Wolken liegende Traumland Shangri-La. Der Dalai Lama ist ein Heiliger, die Chinesen die bösen Invasoren und der Buddhismus ein attraktiver Livestyle für die Klugen, Schönen und Reichen. Dieses romantische Bild hat der Filmemacher Clemens Kuby in seinen Dokumentationen wie „Tibet – Widerstand des Geistes“ verfestigt, und dabei mit den leuchtenden Augen des Gläubigen über die immensen Widersprüche der tibetischen Gesellschaft hinweggesehen. Denn diese war bis zum Einmarsch der Chinesen zutiefst mittelalterlich, erstarrt in sinnentleerten Ritualen, unfähig zur Veränderung. So ist Tibet zu einer Art „Jurassic Park“ für Esoteriker geworden, in dem man ein paar übrig gebliebene Wesen aus einer vergangenen Epoche bewundern kann. Eine Korrektur dieses im Grunde kolonialistischen Blickes tat bitter nötig und wird nun mit dem Film „Angry Monk“ des Schweizers Luc Schaedler geliefert.

Der „zornige Mönch“ des Titels ist der Tibetaner Gendun Choephel, der ein Vorkämpfer des Fortschritts in seinem Heimatland war und als solcher natürlich keine Chance hatte. 1903 in einem Dorf nah der chinesischen Grenze geboren, wurde er als die Inkarnation eines hohen Priesters angesehen und als Mönch erzogen, wobei er sich bald als sowohl brillanter wie auch rebellischer Geist auszeichnete. Ihn faszinierten die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Moderne und enttäuscht von den verkrusteten Strukturen verließ er das Kloster und bereiste Tibet und dann jahrelang Indien.

In den Straßen und Bibliotheken der indischen Metropolen erkannte er, wie rückständig und im Konflikt mit dem alten Rivalen China chancenlos sein Heimatland war, und er begann, zuerst in Artikeln und dann in einem groß angelegten politischen Geschichtswerk gegen diese Zustände anzuschreiben. Vom englischen Geheimdienst denunziert, wurde er bald nach seiner Rückkehr nach Tibet verhaftet und jahrelang eingekerkert. Nach seiner Freilassung war er körperlich und geistig gebrochen und starb kurz nach der chinesischen Invasion, die von ihm präzise vorhergesagt worden war und eine bittere Bestätigung seiner Thesen bedeutete.

Sowohl die Theorien wie auch das Schicksal dieses widerspenstigen Buddhisten spiegeln bis in die heutigen Tage hinein die Zustände in Tibet. Dort wurden seine Schriften bald nach seinem Tod veröffentlicht, und gelten heute als elementare Texte für die Entwicklung einer nationalen Identität. Und so konnte Luc Schaedler, indem er gründlich den Lebensweg von Choephel nachzeichnete, seine Reisen durch das heutige Tibet und Indien mit der Kamera wiederholte und dabei eine Vielzahl von Zeitzeugen befragte, en passant auch die Geschichte Tibets vom Beginn des letzten Jahrhunderts bis heute illustrieren und analysieren. Und da er einen guten Blick für das Detail hat, ist „Angry Monk“ nicht nur als Korrektur unseres Bildes von Tibet wichtig, sondern auch als Film gelungen. So sagt ein Foto aus den 30er Jahren, auf dem ein klappriges Automobil mit dem Kennzeichen „Tibet No. 2“ zu sehen ist, vieles über die damalige Zustände im Land aus, und wenn im heutigen Lhasa die Besucher einer Kneipe vor dem laufenden Fernseher laut den Sieg von Puerto Rico über China bei der Fußballweltmeisterschaft von 2002 bejubeln, ist es interessant, dass sie dieses auch auf Englisch, also für die Kamera tun. So zeichnet der Film ein komplexes, widersprüchliches Bild von Tibet, bei dem für esoterische Verklärung kein Platz mehr ist. Deshalb war es auch klug vom Filmemacher, in diesem Film über Tibet einmal nicht den sonst omnipräsenten Dalai Lama zu Worte kommen zu lassen, denn der hätte mit seinem Charisma den kleinen Lama Gendun Choephel nur zurück in den Schatten gedrängt.

Wilfried Hippen