Wird Venezuela zur Diktatur?

JA

Venezuelas Präsident Hugo Chávez bewegt sich in Richtung des Aufbaus einer Diktatur. Einheitspartei und Regieren über Präsidialdekrete entmündigen die Armen, statt ihnen Emanzipation und das Wahrnehmen jener bürgerlichen Rechte zu ermöglichen, die ihnen in der Vergangenheit verweigert wurden. Das ist nicht Sozialismus des 21., sondern des 20. Jahrhunderts.

Mit seinen Ankündigungen, künftig über Präsidialdekrete regieren zu wollen, die Sendelizenz der wichtigsten oppositionellen Fernsehstation nicht zu verlängern und zudem die Verfassung so zu verändern, dass seine Wiederwahl unbegrenzt oft möglich ist, hat Venezuelas Präsident Chávez jegliche Grenzen demokratischer Spielregeln überschritten. Zusammen mit der Bekanntgabe vom Dezember, sein bisheriges Parteienbündnis in eine sozialistische Einheitspartei zu verwandeln und die Inhalte der Schulbildung politisch-revolutionär umzugestalten, ergibt sich klar das Bild der Umwandlung in Richtung einer Diktatur – auch wenn es derzeit noch nicht so weit ist.

Sicher, Chávez ist demokratisch gewählt und hat seine eigene Regentschaft in den vergangenen acht Jahren häufiger durch Wahlen oder Volksabstimmungen legitimieren lassen als manch anderer lateinamerikanische Staats- oder Regierungschef. Doch Demokratie bedeutet die Achtung auch vor Minderheitsmeinungen, Gewaltenteilung und die Möglichkeit wechselnder Machtausübung – und genau davon versucht Chávez das Land immer weiter wegzuführen. Die alte linke Aufrechnung von sozialen gegen bürgerliche Rechte sollte eigentlich nach den Erfahrungen des „real existierenden“ Sozialismus endgültig der Vergangenheit angehören. In der Diskussion um Venezuelas Kurs feiert sie ihre Wiederkehr. Seht, die Armen essen und lernen – was brauchen sie da oppositionelles Fernsehen?

Richtig, die parlamentarische Demokratie mit der alternierenden Machtausübung zweier Parteien, wie sie Venezuela jahrzehntelang erlebt hat, war von Korruption und Machtklüngel zerfressen, zementierte die krassen Gegensätze zwischen Arm und Reich, scheffelte die Reichtümer des Landes in die Taschen weniger und schloss die arme Bevölkerungsmehrheit vom Entscheidungsprozess aus. Das anzugehen, auch frontal, ist Chávez’ selbst gestellte Aufgabe und dafür verdient er alle Unterstützung. Nur: Was sich da als Vorstellung vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ manifestiert, erinnert doch verdammt an die gescheiterten autoritären Staatsmonster des 20. Jahrhunderts, inklusive Einheitspartei und Avantgardegedöns. Und das bedeutet eben gerade nicht die Stärkung der sozial ausgegrenzten, sondern ihre fortdauernde Entmündigung – der Caudillo weiß schon, wo es langgeht. Blieb den Armen früher die Ausübung der bürgerlichen Rechte versagt, will Chávez sie gleich ganz abschaffen – statt Raum für Diskussion und demokratische Debatte zu schaffen, kreiert er eine Regierungsform, die das Vertrauen auf die weisen und gütigen Entscheidungen des Autokraten zum revolutionären Prozess erklärt. Alle historischen Erfahrungen, ob in Osteuropa, Kuba oder selbst im sandinistischen Nicaragua der 80er, zeigen, dass das Gerede von der als Volksmacht anders organisierten, viel direkteren Demokratie fataler Unsinn ist – eine Floskel zum Ausschluss desjenigen, der bald nicht mehr als politischer Gegner, sondern als Feind betrachtet wird.

Statt Emanzipation fördert Chávez Willfährigkeit. Mitte Dezember verkündete er, er habe entschieden, eine neue Partei unter dem Namen „Sozialistische Einheitspartei Venezuelas“ zu gründen. Die anderen Parteien seines Bündnisses könnten ihm in die neue Partei folgen, wer das aber nicht wolle, müsste allerdings aus der Regierung ausscheiden, schließlich hätte er, Chávez, die Wahlen gewonnen. Sofort folgten Ergebenheitserklärungen. Der Chef der „Vereinigten Volksfront Venezuelas“ (UPV), Pedro Pablo Peñaloza, etwa erklärte: „Mein Comandante befiehlt und wir gehorchen. Wir sind bereit, die UPV aufzulösen. Wer bin denn ich, um an die Entscheidungen des zweiten Befreiers Venezuelas irgendwelche Bedingungen zu stellen, jenes Messias, den Gott nach Venezuela gesandt hat, um das Volk zu retten?“

Mag sein, dass Chávez derzeit sogar für die geplanten politischen Umgestaltungen eine Mehrheit der Bevölkerung gewinnen kann. Aber auch eine Diktatur der Mehrheit bleibt eine Diktatur, wenn sie die Kontrollmöglichkeiten abschafft. Im Übrigen gilt der alte Spruch von der Macht, die korrumpiert, und der absoluten Macht, die absolut korrumpiert, auch in Venezuela. Es liegt an Chávez’ Weggefährten, dem Comandante Einhalt zu gebieten. Das aber erfordert offene Debatte. Kann sein, dass es dafür in den Reihen der venezolanischen Revolutionäre schon zu spät ist.

BERND PICKERT

NEIN

Das Regieren per Dekret kann nicht als Beweis für die Abschaffung von Freiheiten herhalten. Bisher hat der real existierende Parlamentarismus in Venezuela der armen Bevölkerungsmehrheit keinerlei Mitsprache eingeräumt. Ihre Forderung nach Verstaatlichung versucht Chávez nun umzusetzen. Einer radikalen Demokratisierung steht der Personenkult um ihn im Wege.

Was Präsident Chávez diese Woche an Reformen angekündigt hat, ist zumindest in einer Hinsicht das genaue Gegenteil einer diktatorischen Ermächtigung: Die Regierung kommt damit dem Wunsch der Bevölkerungsmehrheit nach Umverteilung des wirtschaftlichen Reichtums und einer anderen Form der Demokratie nach.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Linke jene Reformen umsetzt, die die Rechte machen möchte, aber politisch nicht durchsetzen kann. Rot-Grün hat Deutschland zurück auf globale Kriegsschauplätze geführt, Tony Blair die Briten in die imperiale Allianz mit den USA getrieben, und die brasilianische Regierung Lula – um ein lateinamerikanisches Beispiel zu nennen – neoliberale Sozialreformen durchgepaukt. Präsident Chávez hingegen nimmt die Wünsche der Mehrheit offensichtlich ernst: Der Reichtum soll allen zugute kommen, der klientelistische Parlamentarismus von realeren Formen der Demokratie abgelöst werden.

Dass Venezuelas Präsident bei diesem Vorhaben verstärkt mit Dekreten regieren will, ist als solches noch kein Beweis für die Abschaffung von Freiheiten. Man sollte sich nichts vormachen: Der real existierende Parlamentarismus garantiert der armen Bevölkerung auch keine realen Mitsprachemöglichkeiten. Auch die von Chávez angestrebte Verstaatlichung der Elektrizitäts- und Telefonsparte hat mit Unfreiheit nichts zu tun. Ihre Privatisierung hat in Lateinamerika zur Beseitigung von Sozialtarifen geführt und damit die ökonomische Zwangssituation der Ärmsten verschärft. Ja, selbst die Tatsache, dass der oppositionelle Fernsehsender RCTV wahrscheinlich seine Lizenz verlieren wird, muss unter einem anderen Aspekt diskutiert werden. Es ist einfach nicht wahr, dass Meinungsfreiheit mit der Existenz von kommerziellen Privatsendern identisch ist. Sie hat vielmehr mit der Möglichkeit aller Bürger zu tun, sich zu artikulieren und mit unzensierten Informationen zu versorgen. Sollte die bisher privat genutzte Frequenz partizipatorischen Nachbarschafts- und Kulturprogrammen zur Verfügung gestellt werden (wie es der zweite staatliche Sender VIVE TV ist), wäre die Meinungsfreiheit nicht beschnitten, sondern erweitert.

Trotzdem ist die Entwicklung in Venezuela auch kritisch zu betrachten. In den letzten Jahren ist in dem südamerikanischen Land viel von partizipatorischer Demokratie die Rede gewesen. Man hat Gesetze zur Bürgermitverwaltung verabschiedet und sogenannte Munizipal- und Kommunalräte geschaffen. Während sich die Gremien auf lokaler Ebene (vor allem in den Armenvierteln) gut entwickeln, sind sie auf höherer Ebene, etwa im Großraum Caracas, nur ein weiterer Apparat mehr. Gleichzeitig beschäftigen sich die Regierungsparteien – wie früher die Systemparteien AD und COPEI – intensiv mit dem Verteilen von Listenplätzen und dem Verschieben von Posten.

Und auch die Rolle von Chávez ist problematisch. Er hat der armen Bevölkerungsmehrheit Selbstbewusstsein eingeflößt und damit eine produktive, mobilisierende Rolle gespielt. Andererseits verstellt er mit seiner Omnipräsenz aber auch Räume der Debatte und Kritik. In Venezuela dreht sich heute alles um den Präsidenten – was dazu führt, dass Aktivisten und Staatsangestellte in erster Linie ihrem Chef gefallen möchten. Die kleineren und größeren Katastrophen, die bei einem Transformationsprojekt wie dem venezolanischen unvermeidbar sind, können in diesem „claqueuristischen“ Klima nicht offen diskutiert werden.

Venezuelas Zukunft wird sich daran entscheiden, ob der soziale Umbau gelingt. Demokratie bedeutet immer auch die Demokratisierung der Ökonomie. Die Gesellschaft muss über die Formen und Ziele von Arbeit und Produktion entscheiden können. Dass in Venezuela in diesem Zusammenhang Schlüsselbereiche vergesellschaftet werden sollen, gebietet der gesunde Menschenverstand. Das große Problem ist jedoch, dass Verstaatlichungen nach kubanischem Vorbild weder Reichtum noch Macht besser verteilen, die meisten der von der Chávez-Regierung geförderten Kooperativen bislang nicht wirklich funktionieren und die Arbeiterselbstverwaltung in den Industriebetrieben eine Farce ist.

Chávez hat Recht: Eine andere Welt ist nötig. Weil wir uns nicht in einem herrschaftsfreien Raum bewegen, müssen die Veränderungen auch außerhalb existierender Institutionen durchgesetzt werden. Andererseits: Eine radikale Demokratisierung von Gesellschaft, Medien und Ökonomie, die in Venezuela (und anderswo) so dringend nötig wäre, wird sich nicht machen lassen, wenn Staatschef und revolutionäre Partei als Überfiguren agieren.

RAUL ZELIK