Abenteuer des Zusammenbleibens

Ein Entwicklungsroman unserer Zeit: Die Fernsehserie „Six Feet Under“ beschreibt Dramen zwischen Emanzipation und Gebundensein. Spannend! Und notwendiges Gegengewicht zur Familiendebatte

Wenn wir schon alle sterblich sind – warum sollen wir uns dann nicht wenigstens drum bemühen, emotional erwachsen zu werden?„Verfall einer Familie“ heißen die „Buddenbrooks“ im Untertitel. „Six Feet Under“ könnte man mit „Umbau einer Familie“ untertiteln

VON DIRK KNIPPHALS

Familienromane drängen von sich aus zur langen Strecke. Große Bögen, allmähliche Entwicklungen wollen dargestellt sein. Die „Buddenbrooks“ sind 650 eng bedruckte Seiten lang, und die Fernsehserie „Six Feet Under“ (mit aller Vorsicht: in manchem so etwas wie die „Buddenbrooks“ unserer Zeit) umfasst nun fünf Staffeln zu je zwölf Folgen; die fünfte ist gerade auf Vox angelaufen.

Wie so viele der so kunstvollen, neuen amerikanischen Serienproduktionen („Sopranos“, „Deadwood“ u. a.) hat sie das Serienformat längst gesprengt. Nur noch der obligatorische Todesfall zu Beginn jeder Folge stellt das Serielle her; ansonsten wird episch der Entwicklungsroman einer Familie erzählt. Es ist dabei ein weiter Weg, den jedes einzelne Familienmitglied zurücklegen muss. Und, netter intellektueller Zugewinn: „Six Feet Under“ ist zugleich Spiegelung und Gegengewicht zur gesellschaftlichen Behandlung des Themas. Gerade haben ja auch die Grünen in einer nachholenden Aufwertung die Familie als Wert an sich erklärt. Darüber kann man als „Six Feet Under“-Kenner nur müde lächeln. Genauso allerdings wie über Ansätze, die bei diesem Thema noch mit dem Generalverdacht von Backlash und Konformierung operieren.

Als die erste Staffel vor gut zweieinhalb Jahren zum ersten Mal im deutschen Free TV lief, galt sie als makabrer Geheimtipp mit tiefschwarzem Humor. Das lag eher an der überraschenden Mischung aus Beziehungsproblemen und Leichenpräparationen als an den Figuren. Gleich in der allerersten Folge starb der Vater, der Bestattungsunternehmer, und die Trauer um ihn war so, wie zuvor das Familienleben der Fishers gewesen war: hilflos. Ruth Fisher, die verklemmte, noch ganz in ein Eva-Herman-Leben eingesponnene Mutter, ihre erwachsenen Söhne Nate und David sowie die spätpubertierende Nachzüglerin Claire – sie alle litten an sich, am Leben, an allem, im Grunde wollten sie alle nur weg. Eine kaputte Familie, die lernen muss, ein Bestattungsunternehmen zu führen, Unfälle mit der Blutpumpe inklusive – streckenweise konnte die Serie als bitterböse Abrechnung mit der Idee der Familie durchgehen.

Dieser Außenseiterstatus der Hauptfiguren brachte der Serie einen Underground-Appeal ein. Aber das war ein Missverständnis, wenigstens zum Teil. Denn zugleich war in diese Figuren von Beginn an ein sehr ernsthaftes Motiv eingebaut. Alle arbeiteten hart an sich, um mit sich, den anderen und dem Leben zurande zu kommen. Und das umfasst für alle Figuren auch, sich mit dem Thema der Familie auseinander zu setzen.

Der Clou: Dieses Familienthema entwickelt die Serie gerade nicht aus einer Rückbesinnung auf family values, sondern aus einem Carpe-Diem-Motiv. „Ich wollte das Drama und die Schönheit der Tatsache erforschen, dass wir alle sterblich sind“, so beschreibt Alan Ball, der Erfinder der Serie, im Bonusmaterial zur DVD-Box der fünften Staffel seine Grundidee. Ein hochgestochener Satz. Doch erfasst er tatsächlich etwas von dem untergründigen Ernst, den die Serie stets hatte. Aus der Tatsache, dass sie viel mit dem Tod zu tun haben, ergibt sich für die Figuren dieser Serie, dass sie unbedingt etwas aus ihrem Leben machen müssen, trotz aller widriger Umstände. Von da aus ergibt sich auch die Entwicklungsgeschichte. Für alle Figuren dieser Serie gilt es, emotional erwachsen zu werden.

Das gelingt mal mehr, mal weniger. Rückfälle gibt es sowieso. Während die gegenwärtige Familiendebatte in ihrer Absehbarkeit so langweilig ist, kann man auf der anderen Seite aber feststellen: Es ist spannend und aufregend, den einzelnen Figuren von „Six Feet Under“ zuzuschauen, wie sie sich am Familienthema abarbeiten. Alan Ball gelingt es zu zeigen, dass es um richtige Probleme geht, nicht nur um Diskursphänomene. Und er zeigt es an glaubwürdigen Figuren und ohne Angst vor komplexen Gefühlslagen.

Nate Fisher, der Älteste der drei Geschwister, ist so etwas wie der Stellvertreter einer Generation, die das Familienbashing mit der Muttermilch aufgesogen hat. Man kann sich gut in ihn einfühlen als heutiger Fortysomething, der mit der Ansicht aufgewachsen ist, dass eine Familiengründung unweigerlich ein Einfluchten in gesellschaftlich vorgegebene Bahnen bedeutet. (Manche Dreißigjährige sollen sich mit der Familiengründung inzwischen wieder leichter tun.) Jedenfalls war Nate, bevor die Serie einsetzt, bereits in ein hippes Loserleben in der Großstadt ausgestiegen – und muss, als der Vater stirbt, doch in dessen Fußstapfen als Bestatter treten.

In der fünften Staffel beginnt für ihn das große Bilanzieren. Er trifft auf ehemalige Freunde aus der wilden Collegezeit, und beim Bier wundert man sich gemeinsam darüber, was für grundnormale Lebensentwürfe die Zeit aus diesen vielversprechenden Anfängen formte. Mit Lisa hatte er viele Folgen lang erfahren, dass man emotionale Probleme bekommt, wenn man die falsche Frau heiratet. In der fünften Staffel wird es in seiner Beziehung zu Brenda darum gehen, dass es auch nicht einfacher ist, die richtige Frau zu heiraten. Nach einer Hochzeit wird es langweilig im Leben, so eine frühe Prägung von Nates Generation. Von wegen!, sagt diese Serie.

An Nate werden die Probleme durchgespielt, die sich ergeben, wenn man Selbstverwirklichung und Gebundensein verbinden will. Ein Kampf um Selbstverwirklichung, den jede Figur verbissen führt und der für jede eigene Ironien bereithält. David Fisher etwa muss in den ersten Staffeln noch mit sich selbst darum kämpfen, zu seiner Homosexualität zu stehen – kaum gelingt ihm das, findet er sich sofort in langwierigen Beziehungsproblemen mit seinem Partner Keith wieder. Die Paartherapie als Belohnung fürs Coming-out – ob das gewollt war? Alan Ball meint im Bonusmaterial, man solle Menschen zuschauen können, „die zusammenbleiben, auch wenn es wirklich schwer und hart ist“. So stellt sich die kaputte Familie aus den ersten Folgen allmählich wieder her. Aber es ist eben nicht mehr die rollenzentrierte Familie des Anfangs. Es sind die Abenteuer und Heldentaten des Zusammenbleibens gerade auch nach dem Durchlaufen aller Emanzipationsdramen, die „Six Feet Under“ so spannend machen.

Dann ist da noch Claire, die Nachzüglerin. Sie rückt in der fünften Staffel endgültig in den Mittelpunkt. Was in ihrem Leben zuvor reines Ausprobieren war – mit den Drogen, den Männern, der Kunst –, wird nun Ernst. Ihr Leben könnte jetzt tatsächlich schief laufen. Einige Folgen lang wird sie erst einmal Geld verdienen müssen, es droht ihr ein Leben als Assistentin in einem ganz normalen Büro.

Wer die Splatterelemente und makabren Einfälle der ersten Staffeln zu schätzen wusste, wird die fünfte Staffel möglicherweise als zu melodramatisch empfinden. Man sei vorgewarnt: Es wird mehr geweint, gelitten und sich wieder versöhnt als je zuvor. Eine Serie, die mit coolen Todesfällen begann, ist zum Finale hin bei etwas ganz und gar Uncoolen gelandet: bei der Bearbeitung von Gefühlen. Aber im Grunde ist die Entwicklung folgerichtig. Familie funktioniert in der fünften Staffel endgültig als das, was entsteht, wenn man die großen individuellen Dramen des Lebens – Geburten und Tod, Liebe und Trennungen, Anerkennungskämpfe, Abtreibungen, gescheiterte Lebensträume, aber auch Erfolge – gemeinsam bearbeitet. Und je intensiver diese gemeinsame Bearbeitung geschieht, desto intensiver funktioniert Familie. Über die Strecke aller fünf Staffeln gesehen, ist die Verbindung des Familienthemas mit dem Beerdigungsinstitutsthema also ganz und gar nicht zufällig. In beiden geht es um Unhintergehbares.

Wert an sich? Konformierungsinstanz? Wie klein und hergeholt diese Worte klingen! Vielleicht ist es ja so, dass „Six Feet Under“ deshalb so ein Glücksfall ist, weil es dieses abstrakte Reden mit großen Gefühlstableaus unterfüttert. Und vielleicht braucht man ja solche Tableaus, um die Lücke zwischen dem abstrakten Reden und den je konkreten Erfahrungen in seinem Familienleben überbrücken zu können. Im Kern jedenfalls besteht die jeweilige Entwicklung von Nate, David und Claire in einem Wechsel der Perspektive. Am Anfang betrachten sie Familie noch aus der Kinderperspektive als selbstverständlich vorhandene Heimat, vor der man fliehen muss, in die man sich aber auch bei Bedarf zurückziehen kann. In der fünften Staffel rutschen sie in die Erwachsenenperspektive. Nun ist Familie etwas, was man selbst herstellen muss, sonst hat man sie eben nicht.

Die „Buddenbrooks“ lässt Thomas Mann bekanntlich mit einem traurigen Bild enden. Man sieht die Damen Buddenbrook um einen Tisch gruppiert. „Das Leben, wisst ihr, zerbricht so manches in uns“, sagt eine. Die Männer sind tot oder in der Nervenanstalt, der Erbe ist auch gestorben und das Familienleben nur noch Erinnerung. Auch „Six Feet Under“ endet an einem Tisch. Auch hier ist manches Familienmitglied inzwischen gestorben, nicht jede Beziehung hat gehalten, aber man sitzt zusammen und blickt in die Zukunft. Freundinnen sind dabei, die Familie ist also keine Kleinfamilie mehr. Ein schönes Bild, und es gehört zur Kunst von Alan Ball, dass er es zwar melodramatisch hochjazzt, aber nicht kitschig werden lässt. „Verfall einer Familie“ heißen die „Buddenbrooks“ im Untertitel. „Umbau einer Familie“ könnte man den Familienroman namens „Six Feet Under“ untertiteln.