Fred Tschücke in der Zirkuskuppel

Als stünde er mitten in dem legendären Meer der Geschichten und bräuchte nur daraus zu schöpfen: Alexander Kluge, Meister aller diskursiven Klassen, hat 350 neue Erzählungen geschrieben, inklusive Urszene im Elternhaus von Halberstadt – der neue Band „Tür an Tür mit einem anderen Leben“

VON MICHAEL RUTSCHKY

„Der Ausdruck blonde Bestie im Werk von Friedrich Nietzsche wird allgemein missverstanden, schrieb der Naumburger Heimatforscher Fred Tschücke, der sich im Herbst 1989 für eine breite westdeutsche Leserschaft zu qualifizieren wünschte und der annahm, dass man dies durch eine Nietzsche-Diskussion fördern könnte. In Nietzsches Werk kommt der Ausdruck zweimal vor. Offensichtlich hat er dort, argumentiert Tschücke, nichts mit blondem Menschenhaar oder gar einem Rasse-Typus zu tun. Er bezeichne vielmehr das Raubtier überhaupt, und er sei abgeleitet von bestia flava, d. h. vom Löwen und dessen gelb- blondem Fell. Löwenartig, so Nietzsches Aussage, komme von Zeit zu Zeit ein Raubtiergeist über die Welt und treibe die Ausbeutung auf einen Höchststand.“

So pflegt es zuzugehen in den Geschichten, die Alexander Kluge – unterdessen 74 Jahre alt – mit dem nur ihm eigenen Eifer, mit der nur ihm eigenen Nonchalance ununterbrochen zu erzählen weiß, als stünde er mitten in dem legendären Meer der Geschichten, das insgeheim über die Erde flutet, und bräuchte nur daraus zu schöpfen, was ihm gerade in die Hände kommt.

Allerdings stellt man sich, wenn von diesem Meer der Geschichten die Rede ist, vor allem saftig Anekdotisches vor. 1001 Nacht, Liebesleid und -lust, die Kämpfe mächtiger Männer um schöne Frauen und ausgedehnte Ländereien. Alexander Kluge dagegen greift aus dem anonymen Erzählen, das die Gesellschaft durchwuchert, Fred Tschücke heraus, Naumburger Heimatforscher, der sich in der Bundesrepublik beliebt machen will. Freilich hält in Westdeutschland kaum noch jemand Nietzsche für einen Wegbereiter des Nationalsozialismus. Außerdem zielte nichts in Nietzsches Idee der „blonden Bestie“ auf Ausbeutung im ökonomischen Sinn – wie Fred Tschücke meint –, Nietzsche interessierte sich für Kampf und Krieg; das Wirtschaftsleben war ihm gleichgültig bis verächtlich.

Komisch ist Kluges Geschichte von Fred Tschücke – wie so viele von Kluges Geschichten immer komisch waren, auch wenn es um „Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“, ein Titel von 1973, ging. Komisch ist schon der Name des voreiligen Nietzsche-Spezialisten: Fred Tschücke. Allerdings nicht so weit entfernt von dem seines Helden: Friedrich Nietzsche – kein Name, der nach Donnerhall, dem unbedingten Willen, der Macht klingt. Sondern dem schüchternen Professor mit den Kopfschmerzen. Woher hat Kluge den Namen Fred Tschücke? Gleich beginnt man weiterzuerzählen: Aus der Naumburger Lokalzeitung? Die Sache mit der bestia flava hört sich nach einer Lesefrucht an.

Die Naumburger Lokalzeitung, eine Abhandlung über ein philologisches Spezialproblem bei Nietzsche: Das Meer der Geschichten, aus dem Alexander Kluge wie mühelos schöpft, vereint ganz heterogene Substanzen. Kein Gedanke mehr an Walter Benjamins melancholischen Essay von 1936, dem zufolge „Der Erzähler“ auf eine Tradition authentischer Volkspoesie zurückgreife, die in der modernen Welt verschwinde. Kluge anerkennt keine Sicherheitsvorschriften, die ihn im Montieren der heterogenen Materialien behindern dürften. Leserbriefe, Zeitungsmeldungen, philosophische Gedanken, Geschichtsbücher, wissenschaftliche Abhandlungen, das alles wird seinem Erzählen zur nahrhaften Beute.

Hitlers Zeitökonomie

Dabei zielt das Erzählen nicht nur auf Witz und Schönheit und poetische Effekte. Vielmehr auf sachliche Wahrheit: Fred Tschückes Forschung betreffend die blonde Bestie als bestia flava dürfte sachlich korrekt sein. Diese Sachlichkeit ermöglicht Komik an der unmöglichsten Stelle. So habe, heißt es in einer anderen Geschichte, der Schlafforscher und Statistiker Dr. med. F. Lerchenau die Arbeitszeit des Führers für den Monat Dezember 1941 errechnet und sei für diesen schicksalhaften Monat auf ganze viereinhalb Stunden Denkzeit sowie bloß sechseinhalb Stunden Entscheidungszeit gekommen. „Hätte Hitler weniger wild und aufgeregt gedacht, mehr Schlaf gewonnen, vor allem in den Vormittagsstunden, so hätte die Denk- und Entscheidungszeit auf bis zu sieben Tage ausgedehnt werden können.“

Hitlers Diktatur war schon unterm Aspekt der Zeitökonomie eine Fehlkonstruktion. Kein Wunder, dass der Alleinherrscher, leidenschaftlich dem Fantasieren und Schwadronieren, also der Zeitverschwendung hingegeben, bei seinem Blitzkrieg vor Moskau gleich festsaß – eine Argumentation, die wiederum die spezifisch Kluge’sche Komik durchtränkt: Man stellt sich gleich eine Slapstickszene vor, in der Hitler, von seinem eigenen Redeschwall überwältigt, die entscheidenden Nachrichten vom Ilmensee unmöglich entgegennehmen kann, Chaplins großer Diktator grüßt herüber.

Seit 1964, seit er mit „Schlachtbeschreibung“ Stalingrad in seiner höchstpersönlichen literarischen Manier darstellte, kommt Kluge immer wieder auf den Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Gern in exzentrisch verfremdeter, etwa arbeitswissenschaftlicher Perspektive. In dem neuen Buch geht auch der Erste Weltkrieg in Kluges Erzählen ein, sowie die napoleonischen Kriege. Eine ganze Abteilung des Buches handelt vom zweiten amerikanischen Irakkrieg – man kann schön zuschauen, wie Kluge aus den Zeitungs- und Fernsehnachrichten, aus der großen Medienerzählung seine eigenen Geschichten herausspinnt.

Vom Irakkrieg der Gegenwart kommt Kluge auf die Kriege, auf die Herrschaft, auf die Gesellschaft der Vorzeit zu sprechen, das Zweistromland, wo alles anfing mit Europa – ein Übergriff in die Vorgeschichte, wie sie einem Erzähler, der die 70 überschritten hat, ansteht und naheliegt. Stets handeln Kluges Geschichten – auch die mit engerem Fokus – von der ganzen Welt; oft reicht die Ausweitung bis in den Kosmos, die Sternenwelt (die Kluge früher als Schauplatz unglaublich komischer Science-Fiction-Experimente nutzte).

Eigensinn der Hyänen

Zwei Abteilungen in dem neuen Buch sind Abschieden gewidmet: dem Abschied von den Eisenbahnen – worin zugleich der Abschied von einer Metapher zelebriert wird: dass die politischen Revolutionen, dem marxistischen Glauben zufolge, die „Lokomotiven des Fortschritts“ seien. Es gibt keine Lokomotiven mehr. Sodann der Abschied vom Zirkus als einer Kunstform, die unmittelbar dem Massenvergnügen diente; die Kluge-Aficionados haben sofort den unsterblichen Film von 1968 vor Augen, „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“, der von der Frankfurter Schule und den Aporien der Intelligenzia handelte. Jetzt bleibt fest im Gedächtnis die Geschichte Hans von Friesenhahns, der, um den Schwierigkeitsgrad seiner Künste weiter zu steigern, eine Nummer mit Tüpfelhyänen einstudieren möchte und sich dabei schwere Verletzungen zuzieht; Tüpfelhyänen springen nur ungern durch Feuerreifen, der Eigensinn der Natur.

Mit besonderer Anteilnahme werden die Kluge-Leser in diesem Band die Geschichten über seine Eltern aufnehmen. Sie kamen schlecht miteinander zurecht in dem Bürgerhaus in Halberstadt, Mutter wollte ein anderes Leben als Vater. Hier, ganz am Ende des wiederum sehr dicken Buches findet sich eine bemerkenswerte autobiografische Auskunft. „Mir war klar, dass eigentlich alles, was ich tue, der Herstellung eines Friedens zwischen meinen beiden Eltern, der Rücknahme der Scheidung dient. Wäre ich in Verhandlungen erfahren gewesen, wie ich es heute bin, wäre es mir gelungen, die beiden auseinanderstrebenden Geister in der Krise von 1941 zusammenzuführen.“

Dies war also die ebenso schmerzhafte wie fruchtbare Urszene für einen Mann, der als Geschichtenerzähler, Jurist, Filmemacher, Medienpolitiker einen ganz eigenen intellektuellen Typus in der Bundesrepublik kreiert hat, ein Typus, von dem Brecht und Walter Benjamin und ihresgleichen in den Zwanzigern nur träumen konnten. Aber auch ein aktueller Vergleich ist lehrreich. Kosmologie, Wirtschaftsdaten, das Wetter von 1812, Bildungsgut: Autoren wie Peter Sloterdijk oder Slavoj Žižek fabrizieren aus solchem heterogenen Material ihren Bullshit – während Kluge uns mit seinen Geschichten anhaltend belehrt und erheitert. Wie macht er das nur?

Alexander Kluge: „Tür an Tür mit einem anderen Leben“. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006, 664 Seiten, 22,80 €