Krieg mit anderen Mitteln

Die Politik von Venezuelas linkem Caudillo Hugo Chávez trägt militaristische Züge. Das macht ihn noch nicht zu einem Diktator. Aber zu einer Gefahr für die Demokratie

In Geheimzirkeln des Militärs sozialisiert, geht es Hugo Chávez in erster Linie um die Eroberung der Macht An die Stelle des bürgerlichen Staats und seiner Institutionen treten Cliquen- und Klientelbeziehungen

Linkspopulisten wie der Venezolaner Hugo Chávez und der Bolivianer Evo Morales üben zunehmende Faszination auf das politische Publikum in- und außerhalb Lateinamerikas aus, und manchen provozieren sie gar zu großer Begeisterung. Bejubelt wird vor allem, dass lateinamerikanische Regierungschefs es wagen, den USA frech die Stirn zu bieten, dass sie die Macht der Konzerne antasten und dass Bekenntnisse zu sozialer Gerechtigkeit ihren Diskurs prägen.

Sympathie für die neuen, linken Caudillos haben durchaus nicht nur linke Aktivisten und Mitglieder von Basisbewegungen. Sondern auch viele Bürger, die von den bisher eher geringen sozial- und umverteilungspolitischen Erfolgen der – nach der Phase der Militärregime mühsam restaurierten – lateinamerikanischen Demokratien enttäuscht sind. Dass selbst kritische Beobachter sich im Fall der neuen Linkspopulisten zu Herrscherlob hinreißen lassen, ist befremdlich, kommt jedoch nicht unerwartet. Die Instrumente der Machtkritik auf das eigene Lager anzuwenden ist der Linken seit je schwer gefallen. Und auch heute wird gerne das Totschlagargument bemüht, so etwas nütze doch nur dem Gegner.

Schlimmer ist, dass ein unkritischer Umgang mit den compañeros an der Macht die Lehren aus den Niederlagen der lateinamerikanischen Linken in der Phase zwischen Kriegsende und dem Zusammenbruch des Sowjetblocks kurzerhand ignoriert. Das linke Projekt, mit Hilfe von bewaffneten Bewegungen, ein ganz anderes Entwicklungs- und Gesellschaftsmodell zu etablieren, ist in den 60er- und 70er-Jahren überall in Lateinamerika gescheitert. Doch erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und der Wahlniederlage der Sandinisten in Nicaragua im Jahr 1990 begann ein langwieriger und schmerzhafter Reorientierungs- und Regruppierungsprozess. Zum neuen politischen Angebot der Linken gehört heute die Anerkennung der Marktdemokratie (samt ihrer Defekte) als Arena der friedlichen Auseinandersetzung mit den anderen politischen Akteuren. Dass die Anerkennung der Demokratie als institutionelle Klammer der Gesellschaft weder die Interaktion von Regierungen mit sozialen Bewegungen ausschließt noch die Vertiefung der Demokratie durch Umverteilung und Partizipation, hat die PT-Regierung in Brasilien vorgeführt. Linke Politik kann heute nur auf die Vertiefung und Verbreiterung der Demokratie ausgerichtet sein, nicht aber auf deren Zerstörung.

Der lateinamerikanische Linkspopulismus ist eine Art Nachzüglerphänomen. Er ist erst zum Populismus geworden, nachdem einige Galionsfiguren ihre Wirkung auf die Massen entdeckt haben. Im Fall von Chávez geschah dies nach vielen Jahren der konspirativen Untergrundarbeit. Revolutionäre Verschwörungen von Politaktivisten und Militärs haben in Venezuela eine lange Tradition. Zuletzt versuchten die Guerilleros der 60er- und 70er-Jahre, Offiziere auf ihre Seite zu ziehen, und dies bisweilen mit Erfolg. Chávez engagierte sich ab Anfang der 80er-Jahre in zivil-militärischen Geheimzirkeln, die aus Überbleibseln der gescheiterten Guerilla, linksradikalen Splittergruppen und Armeeangehörigen bestanden. Das Gros der Linken und auch der ehemaligen Guerilleros war damals mit der Integration in das politische System und dem Aufbau von legalen Parteien beschäftigt.

Bald übernahm Chávez eine Vorreiterrolle und drängte zusammen mit Offizierskollegen die zivilen Partner an den Rand. Der gescheiterte Putsch von 1992, der ihn über Nacht bekannt machte, war eine weitgehend militärinterne Angelegenheit. Nach dem Coup wollte Chávez eigentlich wieder die Untergrundarbeit forcieren. Zwar gab er dem Drängen von Luis Miquilena und José Vicente Rangel nach, an den Wahlen von 1998 teilzunehmen, hielt dies aber lediglich für eine „taktische Option“, die bestenfalls ein wenig mithelfen würde, die Bedingungen für einen „historischen Bruch“ zu schaffen. Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, hat Chávez einmal gesagt, und er hat auch gesagt: „Wenn wir an Wahlen teilnehmen, begeben wir uns auf feindliches Terrain.“ Das Politikverständnis des venezolanischen Caudillo hat einen ausgeprägt militaristischen Zug: Bei seinem Durchmarsch durch die Institutionen hat er an strategischen Positionen im Staats- und Politapparat ihm ergebene Offiziere platziert.

Geheimzirkel zur Eroberung der Macht sind notgedrungen elitistisch. Dort treffen sich die Auserwählten, die berufen sind, das Vaterland zu retten. Sie üben aber auch eine große Anziehungskraft auf Träumer, Hochstapler, Fanatiker und Amokläufer aus. Auch spielen in solchen Zirkeln Führerpersönlichkeiten eine wichtige Rolle. Chávez orientiert sich bis heute an den Ideen und Erfahrungen seiner Zirkelzeit. Zweifellos hält er sich für den von Gott und dem Schicksal auserwählten Führer, der berufen ist, sein Land von Grund auf zu verändern.

Zu den Leitideen gehört auch die Zerschlagung des bürgerlichen Staates, die „Überwindung“ der (bürgerlichen) Demokratie und die Verdrängung der „Oligarchie“, also der revolutionäre Totalumbau von Staat und Gesellschaft zum Zweck der Konzentration der Macht durch die revolutionäre Elite. In den Proklamationen und Positionspapieren seit der Untergrundzeit hat Chávez daran nie einen Zweifel gelassen. So vage das Projekt der „bolivarischen Revolution“ in seiner ökonomischen und sozialen Dimension bleibt, im Hinblick auf die Eroberung, den Ausbau und die Kontrolle der Macht sind Chávez und sein Anhang erstaunlich offen und präzise. Voraussetzung für alles andere ist die Kontrolle der Macht – und zwar der ganzen Macht. Macht ist nicht teilbar: Es ist besser, wenn die Revolutionäre die Macht schlecht verwalten, als sie dem Gegner zu überlassen. Die eingeschränkten Befugnisse, die politischen Akteuren nach gewonnenen Wahlen zustehen, reichen jedenfalls für die Durchsetzung revolutionärer Ziele nicht aus.

Zum kleinen Einmaleins der Demokratie gehört die Kontrolle der Macht durch ein System von Gewichten und Gegengewichten; die wichtigsten sind das Parlament, Justiz und Öffentlichkeit. Beschränkt wird Macht aber auch dann, wenn Institutionen nach Regeln funktionieren. Seit seinem ersten Wahlsieg im Jahr 1998 arbeitet Chávez systematisch daran, die checks and balances des politischen Systems auszuhebeln und den Staatsapparat sowie alle Institutionen und Etats seiner Kontrolle zu unterstellen und mit eigenen Leuten zu besetzen. An die Stelle von institutionalisierten und reglementierten Prozessen treten Cliquen- und Klientelbeziehungen. Da es aber keine alternativen Kontrollen und Gegengewichte, etwa durch Basisbewegungen oder Räte, gibt, sind die Folgen politische Inkohärenz, administratives Chaos und wachsende Willkür. Die linkspopulistischen Regime in Lateinamerika gehören zum Typus der delegativen Demokratie (O’Donnell). Es handelt sich dabei zwar nicht um Diktaturen. Aber um entgleiste Demokratien mit geringer Problemlösungsfähigkeit.

DIETMAR DIRMOSER