„Kein Bild enthält die ganze Welt“

Von Deutschland aus gesehen, erscheint Frankreich ein El Dorado für Dokumentarfilmer. Wie auch dort das Fernsehen den Regisseuren ins Handwerk pfuscht, erzählt Jean-Michel Frodon. Für das Arsenal hat er die Reihe „Les Filmeurs“ kuratiert

VON BERT REBHANDL

taz: Monsieur Frodon, was ist das Thema des Programms „Les Filmeurs“, das Sie für das Arsenal ausgewählt haben?

Jean-Michel Frodon: Im Vordergrund stehen die Beziehungen zwischen dem Dokumentarischen und der Fiktion. Das gilt es neu zu diskutieren, auch in Hinsicht auf digitale Technologien. Manche Filme wären noch vor sechs Jahren so nicht möglich gewesen. Es gibt immer wieder neue Formen das Tagebuchs, des Essayfilms – wichtig ist dabei die persönliche Vision. Dabei soll durchaus das zu sehen sein, was wir bei den Cahiers du Cinéma mögen und vertreten.

In Deutschland wird häufig geklagt, dass der Markt für Dokumentarfilme immer schwieriger wird.

In Frankreich gibt es immer mehr Geld, aber es wird nicht fair verteilt. In zehn Jahren stieg die Gesamtproduktion von 100 auf 200 französische Filme pro Jahr, dennoch ist es schwieriger für ambitionierte Projekte geworden. Der Erfolg von Nicolas Philibert „Sein und Haben“, einem Film über eine Landschule, hat viel dazu beigetragen, dass man an Dokumentarfilme glaubt. Die „Reise der Pinguine“ ist ein zweites Beispiel: Dieser Film zeigt aber eine gewisse Neigung zum Exotizismus und fördert das Missverständnis, dass es im dokumentarischen Kino nicht um den Alltag gehen soll.

Gibt es nicht ein starkes Interesse für „Reality“?

Auch in Frankreich hängt die Produktion von Dokumentarfilmen stark vom Fernsehen und dessen „Reality“-Verständnis ab. Das ist aber zwiespältig, denn das Unvorhergesehene am Leben ist gar nicht, was das Fernsehen mag. Dort fragt man häufig schon vorher, was herauskommen wird – das widerspricht aber dem Prinzip der Recherche, des Herausfindens. Wenn jemand nach Afrika gehen möchte, um ein altes Lied aufzuzeichnen, lässt sich nicht alles planen.

Der Aufstand in den Banlieues hat im Vorjahr die Öffentlichkeit beschäftigt. Warum findet sich in „Les Filmeurs“ findet nichts dazu?

Die interessantesten Filme in diesem Zusammenhang waren Spielfilme, darunter der vielfach ausgezeichnete „L’Esquive“. Es wurde viel auf Video gedreht, aber es kam eben noch kein richtiger Dokumentarfilm zustande – das geht alles erst in Richtung Stellungnahme, Augenzeugenbericht.

Wie reagieren die Cahiers du Cinéma auf den Erfolg der DVD und Videoportale im Internet?

Es gibt natürlich viele tolle Sachen da draußen, aber wir haben ja auch eine Tradition, die wir nicht einfach über Bord werfen wollen. Die DVD ist als neuer Zugang zu den Filmen ist zu begrüßen. Lehrer, Studierende, Forscher, alle profitieren davon. Das Kino wollen wir aber nicht aufgeben, es bleibt ein sozialer Ort von eminenter Bedeutung und auch ein Ort der Herkunft.

Der Kunstbetrieb hat zuletzt starkes Interesse am Kino gezeigt. Die Kuratoren Catherine David und Okwui Enwezor sahen in Filmen einen möglichen Schlüssel für die Repräsentation der Erfahrung der Globalisierung als Totalität.

Allerdings, wobei man nicht vergessen sollte, dass das Spezifische des Kinos eben die Kadrage ist, der Bildausschnitt. Kein Bild kann die ganze Welt enthalten, es kann aber auf eine bestimmte Weise, durch die intime Kommunikation mit dem Außerhalb des Bilds, mehr zeigen, als auf den ersten Blick zu sehen ist.

Viele Finanzierungen laufen in Paris zusammen, wichtige Weltvertriebe haben ihren Sitz dort. Ist Paris die Hauptstadt des Weltkinos?

Ja, das stimmt absolut. Auf der finanziellen Ebene spielt Paris eine wichtige Rolle, inzwischen haben sich da allerdings weitere Orte dazugesellt: Rotterdam, Pusan, auch Berlin unterstützen ein Kino des Südens. Eigentlich ist aber wohl Cannes die Hauptstadt. Es gibt inzwischen ein weltweites Netzwerk für nationale Projekte in Iran, Argentinien, China usw. Die Globalisierung hat zwei Gesichter: Das eine ist Hollywood als ein weltweiter Zusammenhang. Dazu gibt es ein alternatives Netzwerk, das seine Verdienste hat, das aber auch gefährlich ist, weil es unter Umständen eine bestimmte mittlere, oberflächlich künstlerische Ästhetik favorisiert und forciert.

Hier hört man, dass einige deutsche Filme aus der letzten Zeit in Frankreich als „Nouvelle Vague Allemande“ bezeichnet werden. Was ist dran an diesem Phänomen?

Wir bei den Cahiers du Cinéma sind auf jeden Fall vorsichtig mit dem Begriff Nouvelle Vague, ich glaube nicht, dass wir ihn verwendet haben. Sicher aber hat sich hier etwas entwickelt. Es gibt hier eine Reihe von Filmen von Regisseuren, von denen wir davor nichts gehört hatten: Darauf sind wir aufmerksam. „Klassenfahrt“ (von Henner Winkler), „Bungalow“ (von Ulrich Köhler), „Marseille“ (von Angela Schanelec), das sind Filme, die uns gefallen haben, und dann fanden wir heraus, dass die Regisseure einander kennen und zu einem gewissen Grad auch helfen. Ich hoffe, dass sich das fortsetzt. Wir sollten aber nicht vergessen, dass die Filme der französischen Nouvelle Vague einander nicht ähnlich gesehen haben. Ihre Gemeinsamkeit war eine Suche nach Modernität, aber ein Film von Truffaut und ein Film von Godard haben sich stark unterschieden, nicht zu reden von Rivette und Chabrol. Bei den deutschen Filmen, von denen wir sprechen, gibt es vielleicht noch ein wenig zu viel Ähnlichkeit. Aber das wird sich entwickeln, hier ist definitiv eine Energie zu verspüren.