Auf dünnem Eis

Der Dokumentarfilm „Dancing With Myself“ von Antje Kruska und Judith Keil zeigt drei anrührende Porträts, bewegt sich aber häufig hart an der Grenze zum Sozialkitsch

Das Lächeln schiebt sich kurz nach dem monotonen Klingeln des Weckers in sein Gesicht und bleibt dort hängen. Reinhard begrüßt den Tag mit ein paar Tanzschritten, lächelt seinem Hund zu, bevor er in die Dusche geht. Sein Motto: „Sich dem Leben öffnen“. Und zwar tanzend, barfuß, mit weit schwingenden Armen und lockeren Kniekehlen. Reinhard lächelt auch dann noch, als er erzählt, wie er jeden Job wegen seiner Schlafstörung verloren hat. Heute bessert er sich die Rente mit der Teilnahme an Medikamentenstudien auf. Seelentrost findet er beim Tanzen in esoterisch angehauchten Kursen. Oder er legt das Video mit „Alexis Sorbas“ ein, schaut fasziniert dem feurigen Griechen zu und legt dann selbst einen Sirtaki auf dem Spannteppich hin. Allein oder mit Hund.

In dem Dokumentarfilm „Dancing With Myself“ porträtieren die Regisseurinnen Antje Kruska und Judith Keil drei Berliner, die sich aus verschiedenen Gründen auf dünnem Eis bewegen. Laurin fühlt sich in der Schule fehl am Platz und kommt mit dem Chaos ihrer Mutter nicht klar; Marco schlägt sich mit Hilfsarbeiten durch, lebt im Wohnmobil und schämt sich vor seinen Töchtern. Die Schnittmenge ihrer Biografien: Alle berauschen sich bei exzessivem Tanzen. Laurin, im Alltag eher schüchtern, stilisiert sich abends zur Stadtnomadin und findet unter der Discokugel eine zweite Identität. In der Gegenwelt der Partykeller bewegt sie sich selbstbewusst und offensiv. Und Marco, der im Gespräch mit seiner Mutter melancholisch an seinen Haarsträhnchen zupft, tanzt stundenlang in der Disco „Speicher“ ab. Hochkonzentriert, mit schweißglänzendem Gesicht und vollkommener Hingabe.

Tanzen als Selbsttherapie? Im Gegenteil. Der Film, der bei der letzten Berlinale in der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ lief, zeigt die Tanzwütigen als Eskapisten. Er thematisiert ihre Einsamkeit, den isolierten Rausch inmitten von ebenso Berauschten. „Dancing With Myself“ ist der dritte Film, den Antje Kruska und Judith Keil gemeinsam realisiert haben; für „Der Glanz von Berlin“ erhielten sie 2003 den Adolf-Grimme-Preis.

Kennengelernt haben sie sich in einem Seminar des Dokumentarfilmers Andres Veiel. Das Vorbild des Regisseurs von „Die Spielwütigen“ spricht deutlich aus ihrer Regiehandschrift. Auch sie greifen inszenierend in die Szenen ein. Manchmal allzu deutlich. Etwa wenn Marco aus dem Wohnmobil tritt und laut aus dem Stellenanzeiger vorliest oder wenn Reinhard mit seiner Tochter am Tisch sitzt und ihr, Kartoffelsalat kauend, einen unbeholfenen Brief an seine Geliebte vorträgt. Dann kippt der Einblick ins Schicksal dieser Menschen, die so viel von sich preisgeben, ins unangenehm Sozialpädagogische, und der Verdacht drängt sich auf, dass die Regie das biografische Material nur benutzt, um vorgefertigte Bilder zu untermauern.

Seine besten und berührendsten Momente offenbart der Dokumentarfilm dort, wo er die Protagonisten frei erzählen lässt. Im hilflosen Doppelmonolog von Laurin und ihrer Mutter tritt alles Wesentliche zutage. Um eine solche Nähe zu den Beteiligten herzustellen, mussten die Filmemacherinnen ihr rückhaltloses Vertrauen gewinnen, und das ist eine beachtliche Leistung. Nun lassen sie die Porträts aber nicht für sich sprechen, sondern versuchen, sie zu einer Zeitdiagnose zu verknüpfen. Das aber scheitert an der konventionellen Bild- und Tonsprache. Mit Einstellungen durch trübe Scheiben, auf graue Mauern und klägliche Topfpflanzen wird die Misere unnötig untermalt. „Es gibt keinen Weg zurück, deine Träume schiebst du vor dir her“, spielt der Soundtrack, während der enttäuschte Mario den Frust vom Jobcenter wegtanzt. Dazu fährt die Kamera der East Side Gallery entlang, und irgendwann taucht, wie in jedem jungen Berlinfilm, der Alex am Horizont auf. Solche Bilder erzählen nicht Neues; der bloße Alltagsbericht hätte genügt, um die Teilnahme des Zuschauers an den drei Schicksalen zu gewinnen.

„Dancing With Myself“ läuft ab 18. 1. im Filmtheater am Friedrichshain, im Broadway und im Kino Rollberg