Wo die Windharfe klimpert

Wer in Sieben Linden wohnt, hat die Stufe des ökologisch korrekten Konsums hinter sich. Lebensqualität hat hier nichts mit Kaufkraft zu tun

Aus Sieben LindenThomas Gerlach

Bei Eva Stützel begann es so: Nach ihrem Psychologiestudium in Saarbrücken las sie auf einer Fete einen Aushang. Später schrieb sie Briefe an Freunde und Verwandte, darin zitierte sie den Vers „Ich kann meine Träume nicht einfach entlassen, ich schulde ihnen noch mein Leben“. Das war 1993. Sieben Jahre später gehörte sie zu den Ersten, die in „Sieben Linden“ ein Niedrigenergiehaus bezogen. Da hatte sie ihr Leben dem Ökodorf anvertraut.

Jetzt leben rund hundert Idealisten in Sieben Linden im Norden Sachsen-Anhalts ihr ökologisch bewusstes Leben – ein Leben in der Zeit des Klimawandels, der heißen und kalten Kriege um Öl und Gas, in der Zeit der Lebensmittelskandale und des Gammelfleischs. Wer hier lebt, hat die Stufe des ökologisch korrekten Einkaufens schon hinter sich. Hier wird Holz eingeschlagen, mit der Hand gespalten, mit Strohballen gebaut, vegan gekocht, das Kompostklo benutzt, danach gedüngt, mit Pferden gepflügt, gesät, geerntet, gegessen und meditiert – in großem Einklang mit der Umwelt.

Eva Stützel kommt wetterfest gekleidet, mit kurzem Haar, die Straße herunter. Fast hat man Angst um sie bei diesem Wind. Doch sie ist kräftig, weist auf den Himmel, der sich über Sieben Linden spannt und sagt: „Was wir hier oft für einen Sternenhimmel haben!“ Auf der einen Seite liegt das Dörfchen Poppau, auf der anderen der Kiefernwald, dazwischen wächst auf gut 40 Hektar Sieben Linden, das Ökoparadies. Paradies? Nein, ein „Modell- und Forschungsprojekt für eine zukunftsorientierte Lebensweise“, wie es ein Infoblatt verheißt.

Bauernhofromantik kommt bei solcher Formulierung nicht auf – sachlich ausgedrückt ist es ein ökologisch korrektes Leben in Gemeinschaften, angereichert mit spirituellen Impulsen und Naturerfahrung. Praktisch ist es ein sehr unfertiges Gelände mit altem Hof, mit Wiesen, Wegen und Pfaden, Gemüsegärten, Brunnen, Biokläranlage, einem Amphitheater, Sonnenkollektoren und Sandkästen.

Eva Stützel betont, dass die derzeitige Tristesse witterungsbedingt sei. Immerhin beleben Menschen jeglichen Alters das Dorf, Kinder spielen, Fahrradfahrer mit und ohne Anhänger rollen vorbei, andere stehen und diskutieren und einer raucht. Was auffällt, ist die Stille. Was auch auffällt, sind Bauwagen – rund 40. Das seien Provisorien, denn Planung und Hausbau nehmen viel Zeit in Anspruch, räumt Eva Stützel ein. Sie ist jetzt 42 Jahre alt, Gründungsmitglied des Ökodorfs und derzeit mit für die Öffentlichkeitsarbeit aktiv.

Zwei der Wagen stehen gleich am Ortseingang im „Globolo“, wo die Windharfe klimpert. Der weite Platz wird von Stangen begrenzt, die in den Himmel ragen und ein Rondell bilden, das aussieht, als wäre es ein Radioteleskop. Der Wandelgang unter den Stangen verbinde die „Energie des weiten Himmels der Altmark mit den irdischen Kräften des Drachenwegs“. So haben es Didi und Milan, die beiden Schöpfer, ausgedrückt. Um möglichst viel davon zu bekommen, haben die beiden ihre Wagen an den Kreis gerückt.

Nicht alles ist gleich so esoterisch. Das Leben im Dorf gliedert sich in Nachbarschaften. Da finden sich Ökopragmatiker zusammen oder strikte Veganer, die auch auf Strom verzichten. Ins Haus der „Brunnenwiese“ ziehen sie gerade ein – drei Erwachsene, vier Kinder. Das untere Geschoss ist mit Hanf gedämmt, das obere mit Stroh, außen und innen viel Holz, in der Mitte ein runder Ofen. Gekrönt wird der Bau von einem Meditationsraum, hoch und gläsern wie ein Flughafentower. Um zu bauen, muss eine Gruppe mehr sein als eine Kleinfamilie, merkt Eva Stützel an. Man wolle größere Gemeinschaften gründen.

Praktizierte Keuschheit

Der Club 99 ist so eine. Gemeinschaft. Sein Anwesen ist stattlich wie ein Herrenhaus. Es scheint auf Balken zu stehen, Reliefs und Mosaiken machen es verwunschen. Der Club 99 hat sein Haus ganz aus regionalen Materialien, Recyclingstoffen und ohne Einsatz von Maschinen gebaut. Tagelang haben sie hier Balken mit der Hand gesägt, erinnert sich Eva Stützel. Eben ein Haus ohne Kompromisse, nicht so wie das ihre, wo der Dämmstoff aus Tschechien stammt und das Fundament aus Beton ist. „Diese Nachbarschaft ist die anspruchsvollste mit einem sehr stark gemeinschaftlichen Konzept, mit gemeinsamer Ökonomie. Sie wollen zeigen, dass es möglich ist, den Konsum auf 10 Prozent zu drosseln – und das ohne Verlust von Lebensqualität.“

So viel Rigorismus sorgt für Verwirrung. Im Ökodorf leben Menschen „in Lehmhütten und ohne Strom“, meldete 2005 eine Nachrichtenagentur, als hätten sich hier Urmenschen niedergelassen. „Ökodorf bietet gefährlichen Raum für Sekten“, warnte die Regionalzeitung vor Jahren. Ohne mit den Siedlern zu reden, wähnte die Evangelische Kirche ein Sektenzentrum, nahm die Behauptung jedoch schnell zurück.

Eva Stützel ist damals trotzdem aus der Kirche ausgetreten. Die Waldweihnacht organisiert sie dennoch. Wer will, könne Heiligabend mitmachen, wer nicht, bleibt eben zu Hause. Es gebe Leute hier, die Schamanismus bevorzugen, erzählt sie, andere sind Christen, eine Frau hält sich zur Neuapostolischen Kirche. Eine gemeinsame religiöse Präferenz gebe es nicht. Es ist eine andere Spiritualität, die wirkt. Wenn man Publikationen aus Sieben Linden liest, geht es um Gemeinschaft, politisches Engagement, Umweltschutz, Grundvertrauen, Freundschaft, Selbsterfahrung, Intensität, Sehnsucht und um Träume.

Es ist eine Art ökologischer Keuschheit, die hier praktiziert wird. Weil die Veganer unter ihnen nicht wollen, dass Tiere getötet werden, hat sich die Dorfgemeinschaft gegen Milchkühe entschieden. Kann man nicht Kühe bis zu ihrem seligen Ende leben lassen? Gewiss, antwortet Eva Stützel, aber das Prinzip der Milchtierhaltung führe dennoch zur Tötung. Denn jede Kuh muss kalben, um Milch zu geben – und wenn das Kalb männlich ist, wird es früher oder später geschlachtet. Es ist eine stete Rücksichtnahme auf Grundsätze und Gefühle: Die Veganer nehmen Rücksicht auf die Kühe, und die wenigen Fleischesser wie Eva Stützel nehmen Rücksicht auf die Veganer.

Die ökologische Lebensweise ist, so scheint es, ein immerwährender Diskurs, Tierhaltung ein Dauerthema. Wenn das mit den Kühen durch ist, gibt es Bedarf bei den Hühnern. Hühner könne es bald geben, kündigt Eva Stützel an. Meerschweinchen wurden offenbar schon diskutiert. Es gibt sie. Fernsehen, Zigaretten und Alkohol gibt es auch, natürlich in Maßen und nur in den Privaträumen, Zigaretten nur an den Raucherplätzen im Freien.

Pferde leben auch hier. Silke Hagmaier gehört zu den Ökopuristen vom Club 99 und hat die Fuhrhalterei „Frühwach“. Sie hat sich für den antiquierten Begriff entschieden. Ihre Haflinger „Odin“ und „Freya“ rücken im Wald Stämme, ackern auf den Flächen ringsum und ziehen Wagen. Den Wallach „Mani“ bilde sie noch aus. Silke Hagmaier führt auf die Koppel, die Tiere kommen heran. Sie kann lange darüber reden, warum Pferde immer besser waren als Traktoren, auch betriebswirtschaftlich. Im Ökodorf-Rundbrief schrieb sie darüber. Jörg, ein Leser aus Heidelberg, hat ihn gelobt, doch kritisch angemerkt, dass auch Pferde „Auspuffgase“ produzieren.

Silke, die aus dem Badischen stammt und 36 Jahre alt ist, erzählt, dass sie seit ihrer Jugend mit Pferden arbeite. Sie hatte Deutschland den Rücken gekehrt und lange in Island gelebt. Dann hörte sie von Sieben Linden. Vor drei Jahren ließ sie sich zur Pferdeflüsterin ausbilden, praktiziert diese Methode jetzt bei ihren Zugpferden und bietet Seminare an. Damit sei sie Protagonistin auf diesem Gebiet.

Die Pferdeflüsterin

Neugierig sind die Pferde jedenfalls. Sie kommen heran, recken die Nüstern, beschnuppern Taschen und Jacken. Nach einer Weile drehen sie zufrieden ab und laufen zu ihrer „Flüsterin“. Die bekräftigt, dass die Tiere ohne Zwang arbeiteten. Auf die sonst üblichen Trensen und Kandaren verzichte sie. Im Idealfall könnte sie sogar die Koppel wegräumen und die Pferde blieben trotzdem. Das ist wohl noch Zukunftsmusik, der Zaun steht noch. „Ich suche einen Weg, dass die Pferde durch die Beziehung zum Menschen einen Zuwachs an Lebensqualität empfinden.“ Silke Hagmaier sagt das mit fester Stimme und wirkt wie eine Amazone zwischen den Tieren. Der Himmel ist aufgebrochen, die Wintersonne leuchtet, dunkle Frauenhaare und blonde Pferdemähnen flattern im Wind.

Lebensqualität ist ein Begriff, der in Sieben Linden nichts mit Kaufkraft zu tun hat. Im Regiohaus, dem alten Hof, ist Essenszeit. Bei Buchweizen, Pastinaken und Grünkohl erzählt Eva Stützel, dass viele Bewohner hier Arbeit gefunden haben – im Wald, in der Gärtnerei, in der Tischlerei, in der Küche. Reichtümer lassen sich damit nicht anhäufen, Zufriedenheit schon. Sie selbst arbeite als Unternehmens- und Gemeinschaftsberaterin für ökologisch und sozial orientierte Menschen und Projekte. Das Know-how habe sie sich unter anderem hier erworben, für ein bescheidenes Auskommen reiche es. Vier Siedler seien außerhalb fest angestellt, wenige seien Hartz-IV-Empfänger, andere lebten von der Rente. In einem Punkt ist Sieben Linden fast ostdeutscher Durchschnitt – die Arbeitslosigkeit liegt bei 14 Prozent.

Bist du glücklich hier?, wurde ein Sieben-Lindener neulich gefragt – seine Antwort: ja, überwiegend ja. Es scheint, dass jeder hier seinen Platz gefunden hat. 200 Siedler sollen nach und nach hinzukommen. Nur die sieben Linden sucht man vergebens. Stimmt nicht, entgegnet Eva Stützel. Sie weist durch die stockfinstere Nacht den Weg zum Platz, wo die Autos parken müssen. Dort kann man auch Mobiltelefone, die im Dorf nicht erwünscht sind, wieder einschalten. Da hinten sollen sie stehen. Sie müssen noch sehr klein sein.