Mehdorns Prunkbau bröckelt

Katastrophe am Hauptbahnhof: Das Sturmtief „Kyrill“ reißt einen tonnenschweren Stahlträger von der Fassade, der auf eine Treppe stürzt. Nur durch Zufall wurde niemand verletzt. Bahnchef Mehdorn steht nun im Kreuzfeuer der Kritik

VON FELIX LEE
UND ALKE WIERTH

Peinlich für die Bahn – und gefährlich für die Berliner: Ausgerechnet der teure neue Hauptbahnhof, der erst vor acht Monaten feierlich eröffnet wurde, wird als einziges größeres Gebäude der Hauptstadt ein Opfer von Sturmtief „Kyrill“. Orkanböen haben in der Nacht zu Freitag an der Südwestseite des Hauptbahnhofs ein zwei Tonnen schweres Stahlelement gelöst, so dass es auf eine Eingangstreppe stürzte. Dass dabei niemand verletzt wurde – reiner Zufall. Die Treppe wurde völlig zerstört.

Ein zweiter Stahlträger drohte gar 40 Meter in die Tiefe zu stürzen, verkeilte sich jedoch in einen dritten. Sicherheitskräfte mussten den 700 Millionen teuren Glaspalast evakuieren, in dem sich zu der Zeit noch hunderte gestrandete Bahnkunden befanden.

Der Schock bei den Verantwortlichen am nächsten Tag ist groß: „Wir sind sehr stolz auf den neuen Hauptbahnhof und werden alles tun, dass so etwas nie wieder passiert“, versicherte ein sichtlich zermürbter Bahnchef Hartmut Mehdorn. Diese Sturmschäden seien das Letzte, womit jemand gerechnet habe. Zugleich versicherte er, dass die Statik des Gesamtgebäudes nicht beeinträchtigt sei, da es sich bei den Trägern um reine Dekorationselemente gehandelt habe. Gestern Nachmittag waren Fachleute im gesamten Gebäude unterwegs, um herauszufinden, ob noch andere Träger locker sind.

So ungeheuerlich der Vorfall, so unkonkret blieb gestern die Ursachenforschung. Der Architekt des Hauptbahnhofs, Meinhard von Gerkan, wies jegliche Schuld an dem Abbruch von sich. Es handele sich entweder um einen Fehler der Statik, der Bauausführung oder der Bauüberwachung. Ein Bahnsprecher sagte hingegen, dass die Stahlträger der Fassade anscheinend nicht ausreichend befestigt waren, sondern nur auf kleinen Verstrebungen lagen – aus offenbar architektonischen Gründen.

Vage blieb gestern auch der TÜV Rheinland, der Teile des Bahnhofes abgenommen hat. „Wir prüfen noch, ob wir für diesen Abschnitt zuständig waren“, so ein Unternehmenssprecher. Wenn ja, könne man haftbar gemacht werden.

Die Bahn setzte gestern ohnehin andere Prioritäten. Zunächst würde man sich um die Wiederaufnahme des Bahnbetriebs kümmern, so ein Bahnsprecher. Erst dann könne man sich intensiver auf die Ursachenforschung konzentrieren. Erst 14 Stunden nach dem Vorfall konnte gestern gegen 13 Uhr der Regionalverkehr wieder aufgenommen werden. Der Fernverkehr auf der Ost-West-Achse stand auch noch am späten Nachmittag noch still.

Im Kreuzfeuer der Kritik steht nun Hartmut Mehdorn. Die Orkanschäden seien ein Beleg für Pfusch, kritisierte der Grünen-Bauexperte Andreas Otto. „Dass der eben fertiggestellte Hauptbahnhof schon dem ersten Sturm nicht standhalten konnte, legt den Schluss nahe, dass es für Bahnchef Mehdorn wichtiger war, ein anspruchsvolles Bauwerk fristgerecht um jeden Preis fertigzustellen, als das Gebäude sorgfältig auf Sicherheit zu prüfen.“

Mehdorn und Architekt Gerkan führen seit Monaten einen erbitterten Streit. Entgegen Gerkans Plänen hatte Mehdorn das Glasdach um 100 Meter zu kurz gebaut und auf eine Gewölbedecke im Untergeschoss verzichtet. Es folgte ein Rechtsstreit zugunsten von Gerkan. Das Landgericht verurteilte die Deutsche Bahn im Herbst, die ursprünglich vorgesehene Gewölbekonstruktion des Architekten nachträglich einzuziehen.

Nach der Freigabe gestern am frühen Nachmittag hat sich der Bahnhof erst nach und nach wieder mit Leben gefüllt. Nein, sie habe keine Angst, sagte eine Verkäuferin bei „Virgin Records“, dem Laden, der als erster seine Türen wieder öffnete: „Die hätten uns doch nicht hier reingelassen, wenn es nicht sicher wäre.“ Die meisten Bahnhofsgäste schritten dennoch mit nach oben gerichteten Blicken durch den Glaspalast.