Süchtig in die Jahre kommen

Die Hälfte aller Bewohner von Pflegeheimen bekommt Psychopharmaka. Jeder zehnte Rentner hat ein Alkoholproblem. Für eine Therapie finden sich viele zu alt: „Das lohnt sich nicht mehr“, sagen sie

„Die besten Werte bei ihrer Gesundheit und Lebensqualität zeigen alte Menschen mit einem risikoarmen Konsum von Alkohol“

Von Elke Spanner

Altersweisheit sieht anders aus. An die zehn Prozent aller über 60-Jährigen bringt den Tag mit Psychopharmaka gedämpft irgendwie hinter sich, statt ihn sinnvoll zu füllen. Jeder zehnte in diesem Alter nimmt nach dem Aufstehen das erste Glas Alkohol zu sich, an die 16 Prozent der Rentner rauchen. „Die Weisheit des Lebens ist die Fähigkeit, gegenwärtig zu sein“, sagt die Bremer Professorin Annelie Keil, und diese Fähigkeit habe ein großer Teil alter Menschen nie erlernt oder wieder verloren.

Als Problem erleben viele Rentner ihren Drogenkonsum nicht. Wenn doch, dann zumindest nicht als eines, das gelöst werden müsste. „Das lohnt sich doch gar nicht mehr“, ist ein Satz, den Georg Poppele vom Evangelischen Krankenhaus Hamburg-Alsterdorf oft zu hören bekommt. Poppele ist Chefarzt der inneren Abteilung, die eine qualifizierte Entgiftung für Menschen ab 60 Jahren anbietet. Er weiß, dass im hohen Alter „jeder zehnte ein Alkoholproblem hat“. Dabei könne ein älterer Körper Alkohol nur sehr viel schlechter vertragen. Mit steigendem Alter sinkt der Wasseranteil, sodass die gleiche Menge Alkohol zu einem höheren Pegel im Blut führt. Zugleich braucht die Leber länger für den Abbau des Alkohols. Mengen, die früher problemlos vertragen wurden, können deshalb zu Trunkenheit und darüber zu Stürzen führen. Außerdem müssen die meisten Rentner Medikamente gegen klassische Krankheiten wie Bluthochdruck oder Herzschwäche nehmen – die Gefahr schädlicher Wechselwirkungen mit Alkohol ist groß.

Doch die meisten Rentner versprechen sich vom Entzug nur körperliche Qualen, keinen Gewinn. Dabei steige ihre Lebensqualität nach einer Therapie zumeist „enorm an“, sagt Claus Wächtler von der gerontopsychiatrischen Abteilung der Asklepios Klinik Nord. Viele körperliche Symptome würden zuvor nicht als Folgen des Alkohols erkannt, weil sie auch typische Altersleiden sind: Gangstörungen, Schwindel, Schlafprobleme. All diese Krankheitszeichen könnten sich wieder zurückbilden, sobald vom Alkohol entzogen ist: „Der Gewinn ist groß.“

Lebensqualität ist der Maßstab, an dem Suchtforscher den Konsum von Wirkstoffen beurteilen. Deshalb raten Fachleute keineswegs zu völliger Abstinenz: „Die besten Werte bei ihrer Gesundheit und Lebensqualität zeigen Menschen mit risikoarmem Konsum“, sagt Poppele. Marion Scheffler, Leiterin eines Seniorenheimes, ermutigt ihre Bewohner bisweilen sogar, „mal einen Schluck“ mit ihr zu trinken. Ein größeres Problem als das Trinken selbst sei die Scham, die viele alte Menschen in die Isolation ihres Zimmers treibe. Würden sie sich trauen, trotz bekannter Suchtproblematik auch in der Öffentlichkeit ein Glas zu trinken, sei es leichter, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

„Unsere Gesellschaft hat die Strategie entwickelt: Gesundheit statt Leben“, bestätigt auch Keil. „Aber niemand will nur Mineralwasser trinken und abends immer im Wald in der frischen Luft rumlaufen.“ Die Droge dürfe nur nicht zur Ersatzbefriedigung für das werden, was der Mensch in seinem Leben vermisst. Erst dann sei der Konsum ein Problem. Sie selbst hofft, dass sie später „im Pflegeheim gelegentlich einen Joint rauchen darf“.

Weniger als die Alkoholproblematik wurde in der Fachwelt bislang der Medikamentenmissbrauch im Alter erkannt. Über 50 Prozent der Bewohner von Hamburger Pflegeheimen erhalten Psychopharmaka, wie Forscher der Uni Hamburg kürzlich ermittelt haben. Die Einnahme psychoaktiver Medikamente nimmt im Alter eindeutig zu – vor allem bei Frauen. Der Verlust des Partners oder auch die Angst vor drohender Unselbständigkeit würden zur Einnahme von Benzodiazepinen, also beruhigenden Medikamenten, verleiten. Viele Rentner würden über Jahre jeden Abend Schlafmittel nehmen, warnt Psychiater Claus Wächtler. Antidepressiva und angstlösende Tabletten gehören für viele Alte zum Alltag wie das Mittel gegen Bluthochdruck. Hans-Wilhelm Nielsen vom Suchthilfezentrum Schleswig weiß, dass die Vergabe von Psychopharmaka in vielen Pflegeheimen eine „Organisationshilfe“ ist: „Das ist eine chemische Fixierung.“ Dabei raten Fachleute auch Patienten im hohen Alter noch zu einer Psychotherapie: Ohne Benzodiazepine sind sie weniger müde, mobiler und dadurch eher zu einer erfüllenden Tagesgestaltung in der Lage.

Bislang weitgehend unbeachtet ist das Problem, dass es auch alt gewordene Junkies gibt. Sicher ist deren Anzahl vergleichsweise marginal. Doch Heroinabhängige, sagt Horst Bossong, früherer Hamburger Drogenbeauftragter und heute Professor an der Universität Duisburg-Essen, haben mit 50 Jahren schon die Probleme, vor die andere erst mit 70 gestellt sind. Es sei eine falsche Annahme zu glauben, die Leute würden irgendwann aus ihrer Abhängigkeit rauswachsen. Allein in Hamburg seien derzeit 777 Alt-Junkies bekannt, die über 46 Jahre alt sind. 54 Junkies haben bereits ihren 60. Geburtstag hinter sich. Für die sei es schwer, sich im Alter Lebensqualität zu erarbeiten. „Was sollen die sich gegenseitig erzählen?“, fragt Bossong. „Von ihren Gefängnisaufenthalten und gescheiterten Therapieversuchen?“ Einen alt gewordenen Junkie, der seit 20 oder 30 Jahren Heroin nimmt, könne man nicht in eine weitere Therapie stecken. Sinnvoller sei, ihn altersadäquat zu betreuen. „Für diese Menschen wäre eine ärztliche Verschreibung von Heroin genau das Richtige“, sagt Bossong. Allein in Hamburg werde es in zehn Jahren 500 bis 800 Abhängige harter Drogen über 55 Jahre geben. „Das Gute an dem Problem: Wir können es vorhersehen“, sagt Bossong. „Die beste Grundlage zum Handeln.“