Durch den Mord wächst die Zukunftsangst

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen werden die gesellschaftlichen Spannungen noch wachsen und den demokratischen Prozess bremsen

ISTANBUL taz ■ Cui bono, wem nützt es? Mit dieser Frage reagierte ein Teil der konservativen, nationalistischen Öffentlichkeit der Türkei auf den Mord an dem türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink und legt auch gleich eine Antwort nahe: den Feinden der Türkei. Der Mord an Dink, so diese Argumentation, schade dem Ansehen der Türkei im Ausland und gefährde die Stabilität im Innern. Darüber hinaus schwäche der Mord die Position des Landes in der Auseinandersetzung um die richtige Interpretation der Massaker an der armenischen Bevölkerung während des Ersten Weltkriegs. Man würde nun im Ausland noch weniger Gehör für die türkische Position finden, nach der es zwar schlimme Übergriffe auf die armenische Minderheit gegeben habe, die damaligen Deportationen aber kein gezielter Völkermord gewesen wäre. Wem nützt der Mord also am meisten? Richtig, den armenischen Feinden.

Diese Art der öffentlichen Auseinandersetzung, mit der türkische Nationalisten nun versuchen von ihrer Schuld an einem Attentat, das überhaupt erst durch die permanenten Angriffe nationalistischer Kreise auf Hrant Dink und andere sogenannte „Verräter“ möglich wurde, abzulenken, droht derzeit die wirklich relevanten Fragen in den Hintergrund zu drücken. Die wichtigste davon ist, was wird dieser Mord bewirken? Die Türkei steht in diesem Jahr vor zwei entscheidenden Wahlen. Im April wird ein neuer Präsident gewählt, im November ein neues Parlament und damit eine neue Regierung. Vor allem die Präsidentschaftswahlen sorgen im Vorfeld schon für enorme Spannungen, weil die kemalistische Opposition, das Militär und weite Teile der Bürokratie gemeinsam mit dem nichtreligiösen, laizistischen Teil der Bevölkerung verhindern wollen, dass sich der amtierende, islamisch geprägte Ministerpräsident Tayyip Erdogan vom Parlament, in dem seine Partei eine große Mehrheit hat, zum Präsidenten wählen lässt.

Dahinter steckt einerseits die Angst, dass die Frommen damit alle wichtigen Institutionen des Staates erobern könnten und dann für eine islamische Restauration der Türkei sorgen würden. Darüber hinaus geht es aber auch schlicht um die Angst der alten kemalistischen Eliten, ihren Einfluss auf entscheidende Machtpositionen und die damit verbundenen staatlichen Pfründen vollends zu verlieren, wenn Regierungschef und Staatspräsident beide dem islamischen Lager angehören.

Doch die Fronten in der Türkei sind durchaus unübersichtlich. Die regierende AKP hat auch ihren nationalistischen Flügel und der laizistische Teil der Bevölkerung gehört in der Regel zu dem besser ausgebildeten, reicheren und nach Westen orientierten Teil der Türkei, die kein Interesse an Chaos und Instabilität haben. Wer immer hinter diesem Mord steckt, welche verdrehte politische Absicht auch damit verknüpft sein mag, eines haben die Attentäter wahrscheinlich erreicht: Es entsteht eine diffuse Angst vor den kommenden Monaten. Angst, sich öffentlich mit einer kritischen Meinung, nicht nur zu der Völkermordfrage, zu exponieren, was an sich schon eine große Bedrohung für einen offenen demokratischen Prozess ist. Und Angst davor, was noch alles passieren kann in einem Wahljahr, in dem entscheidende Weichen für die Zukunft des Landes gestellt werden.

Selbst der Aufschrei der ehrlichen Entrüstung über diesen Mord, der durch das Land geht, bleibt politisch wirkungslos, weil er keinen echten Adressaten hat, sondern sich lediglich gegen „dunkle Kräfte“ richtet, die nicht zu fassen sind und nicht zur Verantwortung gezogen werden können.

JÜRGEN GOTTSCHLICH