„Das ist eine Explosion“

Ereignisse wie in Lichtenrade oder im Wrangelkiez sind vergleichbar mit der Explosion der Gewalt in Paris, sagt der Soziologe Hartmut Häußermann. Heute beginnt die Konferenz „Banlieue Europa?“

Interview UWE RADA

taz: Herr Häußermann, heute nimmt das Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung an der Humboldt-Uni seine Arbeit auf. Warum beginnen Sie mit einer Tagung über die Banlieue in Europa?

Hartmut Häußermann: Das ist ein Thema, das man sich immer noch nicht richtig erklären kann. Es hat etwas zu tun mit der Stadtstruktur. Es hat hat etwas zu tun mit Migration und Integration. Und es hat etwas zu tun mit Jugendlichen und ihrem Auftreten in der Öffentlichkeit. Es ist also ein sehr komplexes Thema und ein ganz wichtiges für die Stadt- und Metropolenforschung.

Anders als in Paris oder Großbritannien gibt es in Deutschland und auch in Berlin keine Ghettos. Heißt das Entwarnung, oder sind wir auf dem besten Wege dorthin?

Ghettos haben wir tatsächlich nicht. Also Entwarnung. Auf der anderen Seite beobachten wir einen Prozess der Entmischung. Es gibt Quartiere, in denen sich Migranten mit Verlierern des Wandels einheimischer Herkunft sammeln. Dort können sich brisante Situationen ergeben. Insofern keine Entwarnung.

Sie selbst haben gesagt, die Ereignisse im Kreuzberger Wrangelkiez, wo sich mehrere Jugendliche gegen Festnahmen gewehrt haben, seien Besorgnis erregend. Ist das eine neue Qualität?

Wenn man das aus einem europäischen Blickwinkel betrachtet, wird man das nicht bagatellisieren können. Es sind keine Einzelereignisse, sondern Ausdruck einer Entwicklung, die vielleicht bei uns nicht so dramatisch und nicht so zugespitzt ist. Aber im Prinzip ist es dasselbe wie in Frankreich oder Großbritannien.

Jugendliche aus Tempelhof und Neukölln haben eine Schulfeier in Lichtenrade aufgemischt. Haben wir da ein Beispiel für den Export von Gewalt aus Problemquartieren in andere Stadtteile?

Ich weiß nicht, was diese Jugendlichen dazu geführt hat, nach Lichtenrade zu gehen. Was es zweifellos gibt, ist der Rabatz oder die Rebellion als Event. Da ist es eigentlich egal, wo das stattfindet und gegen wen es sich richtet.

In Lissabon gab es Verabredungen von Jugendlichen, Touristen am Strand auszurauben.

Das wäre ja eine bewusste Strategie, wenn man sagen würde: Wir greifen eine bestimmte Schicht an, die sich auf unsere Kosten ein schönes Leben macht. Das wäre ja fast politisch zu interpretieren. Die Ereignisse in den Banlieues und auch die in Kreuzberg sind aber nicht als politische erkennbar gewesen. Das ist die neue Qualität.

Gewalt als Selbstzweck?

Möglicherweise. Aber auch als Ausdruck einer sehr tief gehenden Spannung, einer Wut, die sich aufstaut und sich bei irgendeinem Anlass entlädt. Dazu bedarf es keines Flugblatts. Es ist eine Explosion.

Braucht diese Explosion, wie sie in Frankreich geschehen ist, das Ghetto als Voraussetzung?

Das Ghetto ist ein gutes Saatbett für diese Entwicklungen. Aber unter heutigen Kommunikations- und Mobilitätsbedingungen sind solche Explosionen nicht mehr unbedingt an Orte gebunden.

Ihre Strategie heißt Bildung, Bildung, Bildung. Damit schafft man noch keine Arbeitsplätze.

Nein, aber die Voraussetzung dafür, dass man Arbeitsplätze, wenn es sie gibt, besetzen kann. Wahrscheinlich haben wir in der Zukunft eine Nachfrage nach jungen, qualifizierten Leuten. Auf der anderen Seite haben wir diese Migrantengenerationen, die weder über eine berufliche Ausbildung noch über eine abgeschlossene Schulbildung verfügen. Das ist eine Katastrophe.

Die, die heute abgehängt sind, erreicht man mit Bildung also nicht mehr. Verfestigt sich da eine Unterschicht?

Es hat sich eine bestimmte Schicht verfestigt, Menschen, die aus den Sozialsystemen herausgefallen sind. Wenn diese ein bestimmtes Alter überschritten oder eine bestimmte Qualifikation nicht erreicht haben, sind sie wahrscheinlich auf Dauer ausgegrenzt. Nach allem, was wir bisher sagen können, ist dieses Phänomen wohl ein Strukturmerkmal zukünftiger westlicher Gesellschaften.

Sie haben in Ihrem Zentrum einen interdisziplinären und vergleichenden Ansatz. Wie gehen andere europäische Metropolen mit diesen Problemen um?

In Frankreich ist es, trotz aller Programme, die man auflegt, vor allem Repression. In Großbritannien setzt man auf Bildung und sozialen Zusammenhalt in den Nachbarschaften. Das ist vergleichbar mit Berlin und den Quartiersmanagern.

Ein eher neoliberal geprägtes Land ist dem Thema gegenüber aufgeschlossener als ein eher sozialdemokratisch geprägtes Land?

Eine richtige neoliberale Politik interessiert sich dafür nicht. Das Problem der traditionellen sozialdemokratischen Politik ist, dass sie sehr staatsfixiert ist. Das ist auch bei der deutschen Sozialdemokratie so. Solche Dinge wie kommunitäre Selbstorganisation, Kooperationen zwischen staatlichen Organisationen und Zivilgesellschaft sind erst am Beginn. Es wird bislang eher verbal denn faktisch unterstützt.

Wie würde die Berliner Öffentlichkeit auf Ereignisse wie in Frankreich oder die Ermordung eines Kritikers wie Theo van Gogh reagieren?

Es gibt in Berlin sehr verschiedene Kommunikationskreise zum Thema Migranten in der Stadt. Manche bauen da Problembilder und Gefahren auf. Andere sind sehr bemüht, die Integrationsprozesse zu erleichtern. Was der Senat unternimmt, ist eher unprofiliert. Das müsste eigentlich ein Querschnittsthema sein.

Gibt es einen Stimmungswechsel gegenüber Integrationsthemen auch in liberalen und alternativen Milieus?

Es gibt eine gewisse Orientierungslosigkeit und Verwirrung. Die Haltung, wir sind nett zu den Migranten, ist naiv. Sie ist durch diese Gewaltereignisse erschüttert und enttäuscht worden.

Georg Simmel war jemand, der die Großstadt nicht nur als Moloch begriffen hat, sondern auch als Modernisierungschance. Was sind die Chancen von Migration?

Migranten sind Potenziale für den Arbeitsmarkt und die Kultur einer Stadt. Migranten bringen fremde Erfahrungen und Innovation mit. Wenn es da einen Dialog gibt, ist es für jede Stadt eine Bereicherung.