Moralisch verwerflich

Unter Steinmeiers Leitung hat das Bundeskanzleramt 2002 gegen wenigstens zwei der zentralen Ziele der rot-grünen Regierung verstoßen – bei allem Verständnis für die damals angespannte Sicherheitslage

Hat Außenminister Frank Walter Steinmeier im Oktober 2002 verschuldet, dass der in Guantanamo festgehaltene Deutsch-Türke Murat Kurnaz weitere Jahre leiden musste?

Die Präsidentenrunde der Geheimdienste entschied im Beisein Steinmeiers am 29. 10. 2002, dass eine Rückkehr Kurnaz nach Deutschland unerwünscht ist. Als Alternative zur Einreise nach Deutschland galt damals aber nicht der Verbleib in Guantánanmo, sondern die Ausreise von Kurnaz in die Türkei.

Dass dies die Vorstellung der Regierung war, ist auch plausibel. Für einen Gefangenen, der auf Guantanamo festsitzt, hätte man eine explizite Einreisesperre und andere rechtliche Kniffe, die damals diskutiert wurden, nicht benötigt. Diese Abschottungsstrategie macht aber Sinn, wenn man die Einreise von Kurnaz aus der Türkei nach Deutschland verhindern will. Denn aus der Türkei könnte er jederzeit nach Deutschland reisen, weil er hier ja einen festen Aufenthaltsstatus hat.

Konnte Deutschland davon ausgehen, dass die Türkei Kurnaz aufnehmen wird?

Wohl kaum. Die Regierung hat zwar bilateral mit der Türkei über Kurnaz gesprochen, aber es gab nie Signale, dass sich die Türkei ernsthaft für eine Freilassung von Kurnaz einsetzt. Die Bundesregierung hat wohl auch keinen entsprechenden Druck auf die Türkei ausgeübt. Das ist ihr vorzuwerfen. Wenn man sich schon auf die Türkei verlässt, muss man auch etwas dafür tun, dass diese Option funktioniert.

Warum wollte die Bundesregierung Kurnaz nicht nach Deutschland zurückholen?

Im Oktober 2002 war zwar klar, dass Murat Kurnaz kein Terrorist war und mit al-Qaida nichts zu tun hatte. Aber die Sicherheitsbehörden blieben skeptisch und hielten das eher für einen Zufall. Nach ihrer Ansicht hätte der naive Kurnaz auf auf seiner Reise nach in Pakistan durchaus in Kontakt zu entsprechenden Kreisen kommen können - zum Beispiel wenn ihn die Koranschule aufgenommen hätte, an der er seinen frisch gefundenen Glauben vertiefen wollte. Es wusste damals auch niemand, wie sich Kurnaz durch die Erfahrung in Guantanamo und die dortigen neuen Kontakte zu Mitgefangenen entwickelt hat. Tatsächliche Anhaltspunkte für so etwas gab es wohl nicht, sondern nur vage Befürchtungen.

Die Regierung hätte sich die Befürchtungen der Geheimdienste nicht zu eigen machen müssen, hatte aber Angst vor der Opposition. Im Hinterkopf war wohl das Szenario, dass Kurnaz sich später radikalisiert und womöglich gar an einem Anschlag beteiligt. Für die Regierung wäre die Schlagzeile „Türkischer Terrorist von Rot-Grün nach Deutschland geholt“ ein politischer GAU gewesen. Dieses Risiko wollte die Regierung nicht eingehen. Die harte Haltung Steinmeiers war also nicht nur Ausdruck einer übervorsichtigen Sicherheitspolitik, sondern diente teilweise auch politischem Kalkül.

An welchem Maßstab ist Steinmeiers Haltung zu messen ?

Rechtlich hat Steinmeier sich im Oktober 2002 wohl nichts zuschulden kommen lassen. Moralisch muss er sich aber an den Maßstäben der damaligen Regierungszeit messen lassen. Und hier hat er zwei der zentralen Ziele verraten.

Die Bundesregierung hat im Fall Kurnaz ihre Politik nicht am Maßstab der Menschenrechte orientiert, sondern an prophylaktischen Sicherheitsinteressen. Man kann nicht die USA für die Einrichtung des Lagers auf Guantanamo kritisieren und zugleich einem in Deutschland aufgewachsen Guantanamo-Gefangenen die Hilfe verweigern.

Zum zweiten hat die Regierung damals auch die eigene Integrationspolitik Lügen gestraft. Wie kann man einen in Deutschland aufgewachsenen Menschen, der hier seine Ausbildung gemacht hat und noch bei seinen Eltern lebte, plötzlich nur noch als Türken betrachteten? Auch aus damaliger Sicht widersprach das Verhalten gegenüber Kurnaz den selbst gestellten Ansprüchen.

Was gilt für die Zeit ab 2003?

Spätestens ab 2003 muss der Bundesregierung klar geworden sein, dass Murat Kurnaz nicht in die Türkei ausreisen kann. Trotzdem haben Steinmeier und die Regierung an ihren Einreiseverboten festgehalten. Moralisch ist das vielleicht sogar verwerflicher als die Weigerung im Oktober 2002, weil damals zumindest die Option Türkei noch im Raume stand. Allerdings zeigen die USA ab 2003 auch keine Bereitschaft mehr, Kurnaz freizulassen. Damit lässt sich allerdings keineswegs rechtfertigen, dass die Bundesregierung an ihrer Nicht-Einreise-Politik festhält.

Der spätere Verhandlungserfolg Angela Merkels zeigt zwar nicht zwingend, dass ein Einstehen für Kurnaz auch für Rot-Grün erfolgreich gewesen wäre. Schließlich war die USA jetzt wieder um gutes Klima mit Deutschland und vor allem mit der neuen konservativen Kanzlerin bemüht. Allerdings macht der Verhandlungserfolg Merkels deutlich, dass Bedingungen oder Wünsche der USA zum Umgang mit Kurnaz, etwa ein Passentzug oder Rund-um-die-Bewachung, kein unüberwindbares Hindernis waren.

Wie ist die aktuelle Verteidigungsstrategie von Frank Walter Steinmeier zu bewerten?

Seine Hauptverteidigungslinie lautet: Es gab im Oktober 2002 kein offizielles Angebot der USA auf Freilassung von Murat Kurnaz. Doch natürlich werden solche Angebote nicht auf Büttenpapier mit Siegel vom Botschafter überbracht. Dass hier zunächst auf der Geheimdienst-Ebene vorgefühlt wurde, ist wohl eher der normale Weg. In Deutschland wurde das Angebot jedenfalls als ernsthafte Möglichkeit aufgefasst wie mehrere interne Vermerke belegen. Und es wurde auch von Steinmeier ernstgenommen, sonst hätte sich am 29. 10. nicht in seiner Anwesenheit die Präsidentenrunde der Geheimdienste mit dem Thema befasst. CHRISTIAN RATH