Schily verteidigt sich – und Steinmeier

Jetzt bricht auch der frühere Innenminister im Fall Kurnaz sein Schweigen und verteidigt jede einzelne Entscheidung der rot-grünen Regierung. Außenminister Frank-Walter Steinmeier zeigt keine Reue: „Ich würde mich heute nicht anders entscheiden“

Otto Schily: Kurnaz hätte als Türke ohne weiteres in die Türkei reisen können

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Nachdem sich die Kritik im Fall des Guantánamo-Häftlings Murat Kurnaz in den letzten Tagen fast allein auf Frank-Walter Steinmeier konzentriert hatte, meldete sich am Wochenende ein zweiter Hauptverantwortlicher der Affäre erstmals öffentlich zu Wort: Otto Schily. Viele halten den ehemaligen Innenminister der rot-grünen Regierung sogar für den eigentlichen Antreiber im bürokratisch kaltschnäuzigen Umgang mit Kurnaz. Schily jedoch zeigt, wie schon zuvor Außenminister Steinmeier, nicht mal einen Hauch von Selbstkritik. Seiner Überzeugung nach habe die frühere Bundesregierung in ihrem Bemühen um die Freilassung von Kurnaz in allen Punkten richtig entschieden. „Wer die Fakten vorurteilsfrei prüft, muss zu demselben Ergebnis gelangen“, sagte Schily der Bild am Sonntag.

Schily baut seine Verteidigung auf zwei Ebenen auf. Zum einen habe es ernst zu nehmende „Sicherheitsbedenken“ in Bezug auf die Person Murat Kurnaz gegeben. Und diese Sicherheitsbedenken wiederholt Schily genüsslich, obwohl Kurnaz’ Unschuld inzwischen gerichtlich festgehalten ist. „Manche Fragen scheinen bis heute nicht geklärt“, behauptet der Ex-Innenminister. „Zum Beispiel: Warum kaufte Kurnaz nur ein Hinflug-Ticket nach Pakistan? Warum schloss er sich dort einer islamischen Gruppe an? Warum ist Kurnaz nicht in seine Heimat Türkei gereist, wenn er wirklich nur religiöse Studien betreiben wollte? Wer hat das Flugticket bezahlt?“

Zum anderen behauptet auch Schily, es habe im Herbst 2002 kein ernsthaftes Angebot der US-Seite gegeben, Kurnaz freizulassen. „Nach allem, was ich heute weiß, ging es hier nur um vage Gedankenspiele einzelner Geheimdienst-Mitarbeiter auf der Arbeitsebene.“ Falls die Amerikaner den in Bremen aufgewachsenen jungen Mann jedoch freigelassen hätten, hätte dieser „als türkischer Staatsbürger ohne Schwierigkeiten in die Türkei reisen können“, so Schily. „Die Möglichkeit einer Wiedereinreise nach Deutschland war daher eindeutig keine Vorbedingung für die Haftentlassung. Von den US-Behörden ist meines Wissens auch nie eine derartige Bedingung für die Haftentlassung gestellt worden.“

„Nach allem, was ich heute weiß“ und „meines Wissens“ – Schily schränkt mit diesen Bemerkungen den Wahrheitsgehalt seiner Äußerungen etwas ein. In einem Punkt jedoch gibt er sich sehr sicher: Die rot-grüne Regierung habe zu keinem Zeitpunkt auch nur andeutungsweise den Versuch gemacht, die Freilassung von Kurnaz zu verhindern oder auch nur zu behindern. Die Vorwürfe gegenüber Steinmeier in diesem Zusammenhang bezeichnet er als „infam und heuchlerisch“. Der damalige Kanzleramtschef habe sich „völlig korrekt verhalten“.

Steinmeier seinerseits legt sich immer mehr fest. Der Spiegel berichtet über ein Gespräch mit dem Außenminister am Rande eines EU-Treffens am Donnerstagabend in Brüssel. Dort habe Steinmeier noch einmal an die politischen Bedingungen erinnert, unter denen die Regierung im Sommer und Herbst 2002 über den Fall Kurnaz zu entscheiden hatte. „Man muss sich ja nur vorstellen, was geschehen würde, wenn es zu einem Anschlag gekommen wäre, und nachher stellte sich heraus: Wir hätten ihn verhindern können“, so Steinmeier. Und dann habe er einen Satz gesagt, der sich nicht gerade wie ein Reuebekenntnis liest: „Ich würde mich heute nicht anders entscheiden.“

Der Spiegel schreibt in seiner heutigen Ausgabe außerdem, dass das Angebot der US-Amerikaner, Kurnaz freizulassen, nicht nur ein Gedankenspiel von CIA-Agenten gewesen sei. Auch der „Leitungstab des Pentagon“, also des US-Verteidigungsministeriums, habe „offenbar keine grundlegenden Einwände“ gehabt. „Angeblich soll auch das Vorzimmer des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld informiert gewesen sein“, schreibt das Nachrichtenmagazin, ohne jedoch Quellen für diese Behauptung zu nennen.

Die Opposition wirft Steinmeier Uneinsichtigkeit vor und drängt auf eine schnelle Aussage vor dem BND-Untersuchungsausschuss. Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) hingegen stellt sich hinter seinen Parteigenossen. Er sei in der Einschätzung des Falles Kurnaz „voll bei ihm“. Müntefering legt sich auch fest: Steinmeier wird bis „mindestens 2009“ Außenminister bleiben.