Meiler der Skrupellosen

Die Verfasser des internen Vattenfall-Berichts sprechen von einer „Degradierung der Sicherheitskultur“ zugunsten von Produktionsinteressen. Das Personal rief vergeblich um Hilfe oder wurde selbst Teil des Problems

„Wir können uns doch nicht nur darauf verlassen, immer Glück zu haben“, so das Fazit des Berichts

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

Ein lebensgefährliches AKW. Bewusste Verstöße gegen die Sicherheit, Pfusch, alkoholisiertes und unter Drogeneinfluss stehendes Personal und Arbeitsunfälle, die als „potenziell tödlich“ eingestuft werden. Das ist ein Bild der Zustände im schwedischen AKW Forsmark, wie sie in einem bislang geheimen internen Rapport des Reaktorbetreibers Vattenfall-Forsmark ausgemalt werden, der jetzt an die Öffentlichkeit gelangt ist. Und dessen Aussagen Forsmark-Chef Göran Lundgren gestern nicht grundsätzlich widersprechen wollte: Man habe Sicherheitsmängel gehabt und in der Vergangenheit sei tatsächlich einiges versäumt worden, räumte er im Rundfunksender SR ein.

Als „reinsten Sprengstoff“ charakterisiert das öffentlich-rechtliche Fernsehen SVT, das den Bericht am Montagabend öffentlich machte, dessen Inhalt. Und das ist nicht übertrieben. Hintergrund des auch der taz vorliegenden Berichts ist der Beinahe-GAU des Reaktors Forsmark 1 im Juli des vergangenen Jahres. Dieser wird darin als Resultat einer lange anhaltenden „Degradierung der Sicherheitskultur“ bei Vattenfall-Forsmark dargestellt. Die Rücksicht auf die Sicherheit sei immer mehr in den Hintergrund getreten, weil der Fokus allzu sehr auf eine möglichst unterbrechungsfreie Stromproduktion sowie auf umfassende Umbauten, mit denen diese weiter erhöht werden soll, gelegt worden sei. Insgesamt spricht der Rapport von „inakzeptablen Qualitätsfehlern“. Es habe „viele Unglücksfälle, Beinaheunfälle, Falscheinschätzungen, misslungene Tests und andere Fehlgriffe“ gegeben, ohne dass sie je genügend analysiert worden seien.

Der „Unfall“ vom 25. Juli sei passiert, weil die Qualitätsarbeit im AKW nicht den Anforderungen entsprochen habe, die an eine derartige Anlage gestellt werden müssten: „Die faktischen Möglichkeiten des Personals, aber auch der Wille, Instruktionen und Vorschriften einzuhalten, sind immer schlechter geworden.“ Zum Teil sei ganz bewusst gegen Vorschriften verstoßen worden. Was das offenbar überforderte Personal auf den von der Unternehmensleitung ausgeübten Druck schiebe, der es zwinge, Risiken einzugehen und die Sicherheitsbestimmungen „großzügig“ auszulegen. Allein bei Reparaturarbeiten im Sommer habe es 22 Arbeitsunfälle und 68 „Vorfälle“ gegeben, von denen einige leicht „hätten tödlich enden können“. Bei einem zufälligen Alkoholtest beim Personal eine Woche nach dem 25. Juli waren 3 von 25 getesteten Personen so betrunken, dass sie nach Hause geschickt werden mussten. Bei einem Drogentest seien 2 Personen mit „illegalen Rauschmitteln“ im Blut erwischt worden.

Beim Beinahe-GAU am 25. Juli hätten Fehlkonstruktionen eine ausschlaggebende Rolle gespielt, die lange bekannt gewesen, aber nicht behoben worden seien. „Bekannt fehlerhaft“ sei die Konstruktion des elektrischen Stellwerks gewesen, von dem aus aufgrund eines Kurzschlusses der Stromausfall und die zeitweise Lahmlegung der Sicherheitssysteme ihren Ausgang genommen hatten. Bauliche Veränderungen, die diesen Kurzschluss von vorneherein hätten verhindern können, seien – obwohl vom Personal angemahnt – nie vorgenommen worden. Auch Mängel an der Konstruktion der Überwachungsinstrumente, die dann am 25. Juli zum vollständigen Black-out im Kontrollraum beigetragen hätten, seien bereits seit 2004 bekannt gewesen, ohne dass Abhilfe geschaffen worden wäre.

Kritisiert wird die Vattenfall-Leitung auch, weil man nach dem Störfall den Reaktor nicht etwa sofort habe herunterfahren lassen, sondern einen Tag lang in einer „warmen“ (über 100 Grad Betriebstemperatur) Wartestellung gehalten habe, um ihn schnellstmöglich wieder anfahren zu können. Dieser Verstoß gegen die Bestimmungen der Betriebserlaubnis und das schwedische Atomtechnikgesetz veranlassten mittlerweile die staatliche Atomsicherheitsbehörde SKI („Statens Kärnkraftinspektion“), Strafanzeige gegen Vattenfall-Forsmark bei der Staatsanwaltschaft zu stellen.

Auch die Politik reagierte. Noch gestern wurde ein Termin für eine Sondersitzung des parlamentarischen Sicherheitsausschusses zum Thema Forsmark bestimmt. Umweltminister Andreas Carlgren: „Das Szenario, das da aufgezeigt wird, zeigt die dringende Notwendigkeit, die Sicherheitsarbeit zu verbessern.“ Die Grünen-Vorsitzende Maria Wetterstrand und Lennart Daléus, Vorsitzender von Greenpeace Schweden, forderten beide die Ablösung der Verantwortlichen und eine unabhängige Untersuchung der Sicherheit aller schwedischen AKWs. Wetterstrand: „Die Jagd nach schnellem Geld rangiert offenbar vor der Sicherheit.“ Eine Sprecherin der Gewerkschaft, in der die Mehrheit der 800 Forsmark-Beschäftigten organisiert ist, äußerte sich ähnlich und nahm das Personal in Schutz: Nicht bei den gestressten Angestellten solle man die Verantwortlichen suchen, sondern bei der Konzernführung.

Das Fazit der drei betriebsinternen Rapport-Verfasser klingt tatsächlich wie ein Hilferuf: „Wir können uns doch nicht nur darauf verlassen, immer Glück zu haben.“ Und man wirft dem Arbeitgeber vor, die „Kardinalfrage“ bislang unbeantwortet zu lassen: „Was wäre am 25. Juli passiert, wenn alle Notstromgeneratoren ausgefallen wären?“ Ex-Forsmark-Konstruktionschef Lars-Olov Höglund hatte diese Frage schon im August 2006 beantwortet: Die Folge wäre binnen weniger weiterer Minuten eine nicht mehr zu stoppende Kernschmelze gewesen. Das vom Forsmark-Personal kritisierte Schweigen Vattenfalls deutet darauf hin, dass man dieser Einschätzung nicht widersprechen kann.