Ganztagsschulen
: Raue Wirklichkeit

Eines der Bonmots über Anspruch und Wirklichkeit des Unterrichts geht so: Mancher Lehrer legt die Latte seiner Anforderungen so hoch, dass die Schüler bequem untendurch laufen können. So ähnlich ist es mit dem Film von Mark Poepping und Roman Schikorsky über Berliner Ganztagsschulen. Die Latte, die der Schulfilmer und Autor Reinhard Kahl mit seinen Probebohrungen in modernen Schulen gelegt hat, sie liegt in derarter lichter Höhe, dass Poepping/Schikorsky sich gar nicht erst danach strecken: Die Dramaturgie ihres Films ist so schlicht wie ein Abzählreim; ihre Vorstellung von modernem Lernen noch so unartikuliert, dass der Vergleich mit Kahls Blicken in die Zukunft unfair wäre.

Die beiden jungen Dokufilmer setzen einen Schnitt, wenn gerade eine Szene aus der Berliner Hannah-Höch-Grundschule sich zu entwickeln beginnt, die man nun unbedingt sehen möchte. Die Grundschule hat das unverschämte Glück, dass sie aus vier zellenartig-normalen Klassenzimmern eine Lernlandschaft von 400 Quadratmetern für 80 SchülerInnen machen konnte. Nun will man herausfinden, wie Lernen geht, wenn es von jenen vier Wänden befreit ist, die – bislang noch – unauslöschlich mit unserem Bild von Schule verknüpft sind (= Klassenzimmer = Klasse = Lehrer vorn mit Wissen = Kinder sucht, wo der Hase die Eier versteckt hat).

Die Kamera schwenkt nun bei einem Kinderlied durch den Raum und man entdeckt, tatsächlich, einen schlafenden Schüler. Friedlich. So als wäre es ganz normal. Und Schnitt, nächste Schule. Amputationsschmerz befällt einen. Denn der Zuschauer hätte natürlich gerne gewusst: Wie ist das möglich, dass ein Kind sich in der Schule eine Schlafpause gönnt? Was machen die anderen zur selben Zeit? Wie findet sich das wieder neu zu einem lernenden Miteinander? Aber nein: Cut. Aua.

An anderer Stelle beobachtet die Kamera in aller Frühe (aus dem Off: „Es ist 7.20 Uhr.“) eine kleine Lerngruppe von drei Kindern mit ihrer Lehrerin. Die Frau berichtet, sie mache gerade Förderunterricht, mit anderen Worten, sie versucht Nachzügler an die Klasse heranzuführen. Und diese Frau entblödet sich dann nicht zu sagen: Sie finde daran so schön, dass man sanft in den Tag hineinkomme. Um halb acht Uhr morgens! Fördern! Schon taumelt, um diese famose „Pädagogin“ zu widerlegen, ein verschlafenes Mädchen in den Lernraum. Kaum fähig, die Augen zu öffnen, murmelt die Kleine mit Recht vollkommen unverständliches auf die Fragen ihres Folterknechts.

Aber halt, das ist nicht die Schwäche des Films, sondern seine Stärke. Poepping/Schikorsky sind auch Reporter und nicht Utopisten wie Kahl. Ihr Kamera hält Szenen Berliner Schulen fest, die nicht Bilder aus der rosigen Zukunft zeigen, sondern die schmerzlich offenbaren, wie weit der Weg von der „Im-Gleichschritt-marsch-Schule“ zu der des individuellen Förderns und Herausforderns ist.

„Ganztagsschule ist die Antwort auf alles“, sagt Roman Schikorsky. Da ist der Film schon vorbei und trotzdem hat er Recht, wenn auch nur fast. Wenn er in seinen Film noch einmal hineinschaut, wird er sich korrigieren müssen. Ganztagsschule kann die Antwort auf alles sein, was an Schulen falsch läuft, muss aber nicht. Es gibt noch verdammt viel zu tun, ehe die Ganztagsschulen, die gerade in verwirrender Vielfältigkeit überall in Deutschland entstehen, so weit sind. Aber: Unterwegs sind sie. Das zeigt der Film von Poepping/Schikorsky sehr anschaulich. Lehrfilm! Angucken! CHRISTIAN FÜLLER

„Berliner Ganztagsschulen – gut zu sehen!“ Von Mark Poepping und Roman Schikorsky. 94 Minuten. Erhältlich über: dkjs.de