Duell am Klavier

Mord und Verrat, Inzest und Kindstod und offen ausgetragene Aggressionen: Die geballte Ladung macht Chris Kraus’ „Vier Minuten“ zu einem Stück echtem Kino

Statt „Vier Minuten“ wäre der angemessenere Titel „Wenn Frauen hassen“ für das Drama zwischen seinen beiden weiblichen Hauptfiguren gewesen, das Ähnlichkeit mit einem Western-Show-down hat. Eine 20-Jährige und eine 80-Jährige, eine inhaftierte Mörderin und eine Klavierlehrerin mit Nazivergangenheit, liefern sich ein Duell mit allem Drum und Dran: Zuerst belauern sie sich, messen ihre Kräfte, halten nach Schwachstellen Ausschau; dann gehen sie unvermittelt zum Angriff über, mit gezielten Schlägen in die jeweiligen Blößen. Währenddessen geraten sie in immer größere Abhängigkeit voneinander, weshalb es am Ende nur die Entscheidung gibt: Entweder reißt die eine die andere mit in den Abgrund – symbolisch gesprochen – oder sie retten sich gegenseitig.

Jenny von Loeben, gespielt von Hannah Herzsprung, ist die verurteilte Mörderin. In der ersten Szene sieht man sie im Stockbett ihrer Zelle aufwachen. Am Kopfende hat sich über Nacht ihre Mitgefangene erhängt. Jenny verzieht keine Miene, sucht in der Hosentasche der Toten nach Zigaretten, wird fündig und zündet sich eine an. Ja, diese junge Frau ist eine ziemlich unangenehme Zeitgenossin. In tiefem Selbsthass verstrickt, kratzt sie sich zwanghaft an den Unterarmen, und ihre Finger sind voll wunder Stellen. Doch bevor man sich noch allzu sehr einfühlen kann, schlägt Jenny in einer weiteren Szene einen Vollzugsbeamten krankenhausreif. Und als sie den Mann erledigt hat, stellt sie sich ans Klavier – sie befindet sich in der Gefängnisbibliothek – und hämmert los.

Traude Krüger, die alte Klavierlehrerin der Anstalt, hört sie spielen, und ab sofort will sie die junge Frau um jeden Preis unterrichten. Jenny soll am anstehenden „Jugend musiziert“-Wettbewerb teilnehmen. Ihr Sieg, das legt die alte Frau der Gefängnisleitung dar, sei mehr als wahrscheinlich. Und alle würden sie davon profitieren: die Justizstrafanstalt genauso wie die hochbegabte Pianistin. Heilung von Körper und Geist durch musische Bildung, das ist eine im deutschen Bürgertum tief verwurzelte Idee. Also kann sich die Gefängnisleitung, verkörpert durch den schmierig-gemeinen Richy Müller und den ausweichend-skeptischen Stefan Kurt, dem Plan nicht widersetzen.

Monica Bleibtreu stellt die Klavierlehrerin als eisern verschlossene Frau dar. So wenig gibt diese Traude Krüger in der ersten Hälfte des Films von sich preis, dass man fast das Interesse an ihr verliert, wäre da nicht ihr einigermaßen bizarres Verhalten. Zum Klavierschleppen heuert sie dubiose Männer mit Vorstrafen an; von der kleinen Tochter eines Beamten aber fordert sie stur den klassischen „Knicks“. Sie redet unangenehm viel von „Pflicht“ und davon, dass Jenny ihrer Begabung etwas „schuldig sei“. In Rückblicken zeigt der Film bruchstückhaft Ausschnitte aus Traude Krügers Leben als junge Krankenschwester in einem Kriegslazarett. Nach und nach verdichten die sich zu einer traumatischen Erfahrung, die Auslöser eines tief sitzenden Schuldgefühls der alten Frau ist.

Mord und Verrat, Inzest und Kindstod, verborgene sexueller Neigungen und offen ausbrechende Aggressionen: Drehbuchautor und Regisseur Chris Kraus mutet den Zuschauern einiges zu. Doch in dieser Geballtheit liegt überraschenderweise die Stärke des Films. Einerseits scheint es zu viel, was den zwei Figuren an Konflikten aufgebürdet wird. Andererseits aber wachsen sie an dieser Last. Im Duo gleichen Hannah Herzsprung und Monica Bleibtreu manche Unebenheit des Drehbuchs durch ihr nuancenreiches Spiel aus und entwickeln eine im deutschen Kino rare emotionale Intensität.

Dabei bilden die Starrheit des Gefängnisalltags, die Besessenheit aller Beteiligten mit Gehorsam und Disziplin den besten Hintergrund für jene explosive Ausbrüche, deren befreiend-lustvolle Zerstörungsmacht Hannah Herzsprung so besonders gut darstellen kann. Sein expressives Moment gibt dem Film etwas eigenartig Unwirkliches, weshalb „Vier Minuten“ auch erstaunlich frei scheint vom sonst den deutschen Film so bestimmenden Milieu-Realismus: Er ist einfach ein Stück echtes Kino.

BARBARA SCHWEIZERHOF

„Vier Minuten“. Buch und Regie: Chris Kraus. Mit Monica Bleibtreu, Hannah Herzsprung u. a. D 2006, 112 Min.