Der kleine Patriotismus

Deutschland, eine Winterfrage: Meinen die Zuschauer tatsächlich die Handball-WM, oder versuchen sie nur, die Gefühle des vergangenen Sommers wiederzubeleben?

Spätestens seit dem Erreichen des Halbfinales ist überall vom „Deutschen Wintermärchen“ die Rede. Nur: Während Sönke Wortmanns „Sommermärchen“ Heine ins Positive gewendet haben wollte, ist der auf die deutsche Handballnationalmannschaft gemünzte Begriff völlig ursprungsvergessen.

Das eine glich aber dem anderen tatsächlich auf eine seltsame Art. Nur ist jetzt alles kleiner, geordneter, gesitteter. Oder es ist wie ein Blick zurück durch ein Fernrohr (das irgendwie zugleich auch ein Mikroskop ist): Das Außen fehlt; es gibt keine Fans, die durch die Straßen rennen, keine Krawalle; weder Autokorsi mit Deutschlandfahnen, die hupend durch die Gegend rennen, noch Public-Viewing an allen Ecken, noch Diskussionen über unterschiedliche (Wahl-)Identitäten. Die Handball-WM findet in ausverkauften Hallen statt; außerhalb der Halle gab es nicht einmal Plakate zum Eröffnungsspiel.

Vor dem Fernseher im private viewing hat man das Gefühl, viele der fähnchenschwenkenden Zuschauer würden nicht so sehr die Handball-WM meinen, sondern die Bilder der Fußball-WM zitieren – als wenn sie versuchten, die Gefühle des Sommers wiederzubeleben; im freudschen Sinne – also mit gutem Ausgang nach der Durcharbeitung – zu wiederholen. Manches aus dem Sommer wird in den Winter einzupassen versucht und wirkt nun – nur ein bisschen – deplatziert: das „Deutschland vor, schieß ein Tor“ zum Beispiel, das immer wieder intoniert wird, aber viel weniger Kraft hat, da ein Tor im Handball ja viel weniger bedeutet als im Fußball. Der kleine Patriotismus der Handball-WM ist nicht nur kleiner, sondern vor allem ein Zitat dessen, was im Sommer geschah.

Seltsam auch, dass Handball, obgleich körperbetonter, als der gesittetere Sport gilt. Vielleicht ist es so, weil die Dramaturgie eines Handballspiels komplizierter ist als die eines Fußballspiels. Andererseits ist die Enddramatik im Handball – wie gegen Frankreich, wo sich das Spiel auf zwei unglaubliche Minuten verdichtete – weitaus größer und die Rolle des Schiedsrichters wohl auch.

Am deutlichsten wurde das Verhältnis zwischen Handball und Fußball, Sommer und Winter, kleinem und großem Bruder, als der Moderator nach dem Sieg im Halbfinale ein Telegramm in die Kamera hielt, in dem Jogi Löw und seine Jungs unseren großartigen Handballern wünschten, sie würden das erreichen, was den Fußballern verwehrt geblieben war, und ihr Spiel gegen Frankreich gewinnen. Der große Bruder verteilt die Belobigungen – selbst dann noch, wenn der kleine Bruder zu schnell für ihn geworden ist. DETLEF KUHLBRODT