Der Bär darf wagemutig bleiben

Heute beginnen in Berlin die 57. Internationalen Filmfestspiele: Der Trend zum Event ist bei ihren Programmgestaltern angekommen. Auf den Trend zur Gleichschaltung aller deutschen Kinoinstanzen lassen sie sich glücklicherweise nicht ein

Rohrbach blitzt ab: Obwohl dem Mainstreamkino nicht abgeneigt, setzt die Berlinale auf die Präsentation minoritärer Positionen

von CRISTINA NORD

In Hong Sang-soos Panoramabeitrag „Women on the Beach“ fahren drei Thirtysomethings aus Seoul in einen Ort an der Küste. Die Saison ist vorüber oder hat noch nicht begonnen, das Seebad wirkt verwaist, und die weitläufigen Strände sind leer wie die Restaurants, in denen die drei einkehren, um Reiswein zu trinken und Meeresfrüchte, Fisch und Nudelsuppen zu sich zu nehmen.

Zur Pressevorführung von „Women on the Beach“ ging ich mit einem leichten Hungergefühl im Magen. Je länger der Film dauerte und je mehr darin gegessen wurde, umso größer wurde dieser Hunger. Eine charakteristische Berlinale-Erfahrung: Der Magen knurrt, während die Figuren auf der Leinwand die tollsten Speisen genießen. Das Essen in den Filmen sieht dabei meistens so verführerisch aus, dass dagegen alles abfällt, was die Sushi-Imbisse, die Steakhäuser und die Coffeeshops am Potsdamer Platz zu bieten haben. Selbst wenn man sich Zeit für eine richtige Mahlzeit gönnt, reicht das reale Essen nie an die im Kino imaginierten Genüsse heran.

In diese Lücke springt eine der Neuerungen, die sich die Berlinale Jahr für Jahr einfallen lässt, um nicht der Routine zu verfallen. Die Sonderreihe „Kulinarisches Kino – Eat, Drink, See Movies“ präsentiert im Martin-Gropius-Bau Spiel- und Dokumentarfilme zum Thema Essen, etwa „Bushi no Ichibun“ („Love and Honour“) von dem japanischen Altmeister Yoji Yamada. Es geht darin um einen Samurai, der Vorkoster am Hofe eines Adligen ist und erblindet. Im Anschluss an die Vorführungen tischt jeweils ein Koch des Abends auf. Film, Essen, ein Glas Wein und Diskussion gibt es für 39 Euro. Ob das Paket den imaginierten Genüssen standhält, ist vorab nicht zu klären. Eins aber steht fest. Der Trend zum Event ist bei den Programmgestaltern der Berlinale angekommen.

Dazu passt eine weitere Neuerung: Mehr als in den Vorjahren wird Filmgeschichte als Event in Szene gesetzt. Die ersten beiden Teile der digital restaurierten Fassung von Rainer Werner Fassbinders Fernsehserie „Berlin Alexanderplatz“ werden morgen in einer Gala vorgeführt. Zwei Tage später kann man von zehn Uhr früh bis drei Uhr nachts alle 14 Teile in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz anschauen. Die DVD-Edition erscheint in der Cinemathek der Süddeutschen Zeitung, beworben wird sie mit einer seltsamen Wendung: „Immer noch so dunkel wie ein Fassbinder, aber in helleren Bildern“. Seltsam, war es doch gerade ästhetische Signatur von Fassbinders Döblin-Verfilmung, dass sie so dunkel war.

Das Wettbewerbsprogramm setzt in diesem Jahr weniger auf Neuerung denn auf die übliche Mischung. Die Auswahl versammelt Hollywood- und europäische Autorenfilme (unter anderem sind die französischen Regisseure André Téchiné, François Ozon und Jacques Rivette vertreten), asiatischen Wagemut (Li Yus Beitrag „Lost in Beijing“ kann wegen der chinesischen Zensurbehörde nur in einer geschnittenen Fassung gezeigt werden) und einige weniger bekannte Regisseure wie etwa Ariel Rotter, einen Argentinier, der mit „El otro“ („Der Andere“) seinen zweiten Spielfilm vorstellt.

Die großen US-amerikanischen Produktionen sind meist kurz davor, in Deutschland in die Kinos zu kommen. „The Good Shepherd“, Robert De Niros fast dreistündiger Spielfilm über die Gründung der CIA mit Matt Damon und Angelina Jolie, startet noch während des Festivals, am 15. Februar. Eine Woche später läuft Steven Soderberghs „The Good German“ an, ein im Berlin der Nachkriegszeit angesiedelter Thriller mit George Clooney und Cate Blanchett. Auch „Bordertown“ von Gregory Nava kommt am 22. Februar in die Kinos, es geht um eine Mordserie an jungen Frauen im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko, in Hauptrollen zu sehen sind Jennifer López und Antonio Banderas. Am 1. März folgt „Letters from Iwo Jima“. Nach „Flags of our Fathers“ ist dies der viel erwartete zweite, aus japanischer Sicht erzählte Teil von Clint Eastwoods Diptychon über den Krieg auf dem Pazifikeiland Iwo Jima.

Dabei wäre es billig zu beklagen, dass die europäischen A-Festivals vor allem als Werbeplattformen für den bevorstehenden Filmstart herhalten, solange sich die Kritik an die Festivalleitungen adressiert. Fragwürdig ist eher die Unnachgiebigkeit, mit der die US-amerikanischen Studios ihre Produktionen unter Verschluss halten. Eine Festivalpremiere sechs Monate vor dem regulären Filmstart erscheint heute wie ein Ding der Unmöglichkeit. Je skrupulöser die Majors die Marketingkampagnen zu den Filmen planen, umso mehr scheuen sie die Unwägbarkeiten und Launen eines Filmfestivals.

Entdeckungen sind ohnehin eher in den Nebenreihen möglich. Eine Stärke der Berlinale ist dabei seit jeher die Auswahl von Dokumentarfilmen. Die junge Wiener Regisseurin Anja Salomonowitz etwa findet in „Kurz davor ist es passiert“ (Forum) zu einer überzeugenden Mischung aus Dokumentarmaterial und Inszenierung, um von Frauenhandel und Zwangsprostitution zu berichten. Der Berliner Regisseur Philip Scheffner forscht in „The Halfmoon Files“ (Forum) der Geschichte eines indischen Kriegsgefangenen während des Ersten Weltkrieges nach. Der Mann namens Mall Singh war in einem Lager in Wünsdorf bei Berlin interniert und musste dort für einen Sprachforscher und Lautarchivar auf Band sprechen. Der Film collagiert das zunächst heterogene Material zu einer dichten Spurensuche – Aufnahmen aus dem heutigen Wünsdorf, historische Fotografien, Szenen aus frühen Kolonialspielfilmen, die in dem Lager mit den inhaftierten Soldaten als Statisten gedreht wurden, Gespräche mit einem leitenden Angestellten der indischen Botschaft in Berlin. Scheffner dreht, wie er selbst sagt, „eine Gespenstergeschichte“, was sich doppelt bewahrheitet. Zum einen, weil Mall Singh, die zentrale Figur der Recherchen, ein blinder Fleck bleiben muss, zum anderen, weil man dem Rassismus des frühen 20. Jahrhunderts, dem kolonialistischen Denken, dem Positivismus des Kopfvermessens und Stimmenarchivierens am ehesten auf die Spur kommt, wenn man ihm nicht mit umgekehrtem Positivismus begegnet – sondern mit Schwarzblenden oder Bildern wie dem eines herrenlosen Plastikbandes, das gespenstisch im Wind weht.

Von dem verdienten US-amerikanischen Dokumentarfilmer Frederick Wiseman stammt „State Legislature“ (Forum), eine mehr als dreistündige Exploration der Legislative im US-Bundesstaat Idaho. Sie vermittelt aber im langsamen Aufbau einen nachhaltigen Eindruck vom Prozess der Gesetzgebung, von dessen Tücken und von der Schwierigkeit, ein Gleichgewicht zwischen Regulierungsfuror und Laissez-faire zu finden. Wie etwa soll man umgehen mit Leuten, die ihre Mobiltelefone dazu nutzen, sogenannte Beaver Shots anzufertigen – also das Telefon unter den Minirock einer Passantin halten und ein Foto schießen? Nach bestehender Gesetzeslage ist das weder Körperverletzung noch sexuelle Belästigung, da es nicht zu einer Berührung kommt. Wiseman schaut den Senatoren geduldig dabei zu, wie sie Vor- und Nachteile eines neuen Paragrafen debattieren.

Man könnte also meinen, es herrsche business as usual bei dieser sechsten Berlinale, die unter Dieter Kosslicks Verantwortung stattfindet, deutete sich nicht eine Verstimmung an, etwas, was sich zu einem Konflikt in Sachen deutscher Film auswachsen könnte. Obwohl die Berlinale dem deutschen Mainstreamkino nicht abgeneigt ist, setzt sie doch seit einigen Jahren auf die Präsentation jüngerer, weniger eingängiger, minoritärer Positionen. Im letzten Jahr überraschte das Auswahlgremium, indem es Valeska Grisebachs mit Laiendarstellern gedrehten Film „Sehnsucht“ in den Wettbewerb aufnahm. In diesem Jahr sind viele Regisseure eingeladen, die der sogenannten Berliner Schule zugerechnet oder in ihrem weiteren Umfeld verortet werden. Christian Petzold ist mit „Yella“ im Wettbewerb vertreten, Thomas Arslan mit „Ferien“ im Panorama, Angela Schanelec mit „Nachmittag“ im Forum, Maria Speth mit „Madonnen“ ebenfalls im Forum. Zugleich hat die Deutsche Filmakademie vor kurzem die Nominierungsliste für den Deutschen Filmpreis bekannt gegeben – eine Liste, die in fast allen Kategorien das Erzähl- und das Unterhaltungskino, das gepflegte Arthouse und den soliden Mainstream gegenüber den wagemutigeren Filmformen privilegiert. In dieser Vorauswahl findet sich in der Schlüsselkategorie des besten Filmes weder „Sehnsucht“ von Valeska Grisebach noch „Falscher Bekenner“ von Christoph Hochhäusler noch „Sommer ’04“ von Stefan Krohmer noch „Lucy“ von Henner Winckler. Überdeutlich wird daran, dass die Filmakademie den ästhetisch relevanten deutschen Filmen die kalte Schulter zeigt und lieber auf „Das Parfum“ und „Mein Führer“ setzt.

Hinzu kam Anfang Januar ein Angriff, den der Präsident der Filmakademie, der 78 Jahre alte Produzent Günter Rohrbach, im Spiegel lancierte. Er grollte der Filmkritik, weil die einen Publikumsliebling wie „Das Parfum“ nicht zu schätzen wisse und stattdessen „Sehnsucht“ von Valeska Grisebach lobe, obwohl dieser Film nur 25.000 Zuschauer gefunden habe. Da die Filmakademie mit dem Filmpreis die stattliche Summe von fast drei Millionen Euro verteilen darf, sind solche Äußerungen nicht als die Auslassungen eines harmoniebedürftigen, älteren Herren abzutun.

Vielmehr kommt Rohrbachs Einlassungen Brisanz zu – der drei Millionen Euro wegen, aber auch, weil sie sich als indirekte Kritik am Auswahlverfahren der Berlinale lesen lassen. Im letzten Jahr wurde Florian Henckel von Donnersmarcks Erfolgsfilm „Das Leben der Anderen“ nicht in den Wettbewerb aufgenommen, mit einem Platz in einer Nebenreihe wollten sich die Filmemacher damals nicht begnügen, sodass „Das Leben der Anderen“ am Ende gar nicht auf der Berlinale gezeigt wurde. Bei der Verleihung des Filmpreises am 12. Mai 2006 dann erhielt der Film sieben Lolas. Rohrbachs Ausführungen lassen sich vor diesem Hintergrund als Mahnung begreifen. In Zukunft wollen wir alles haben: den Goldenen Bären, die drei Millionen Euro und dazu die Lobeshymnen aller deutschen Filmkritiker.

Schön, dass die Berlinale sich auf so viel Gleichschaltung nicht einlässt.