Symphonie des Schlachthauses

Ein später Triumph: Charles Burnetts Sozialdrama „Killer of Sheep“ (Forum) von 1977 darf wieder gezeigt werden

Stan hat einen Job im Schlachthof. Wir sehen ihn, wie er den Fußboden von Blut und Gedärmen reinigt, wie er Schafe auf die Schlachtbank treibt und Kadaver, die noch zucken, ausnimmt. Wenn Stan nach Hause kommt, ist er nur noch eine menschliche Hülle, psychisch und physisch gezeichnet von der grausamen Arbeit. Am Esstisch mit seiner fürsorgenden Frau kriegt er kein Wort heraus. Seinem Freund Oscar erzählt er, dass er unter Schlafstörungen und Depressionen leide. „Warum bringst du dich nicht einfach um?“, entgegnet Oscar. Doch wie soll das gehen? Stan ist längst tot, kaum fähig zu einer emotionalen Regung. Seine kleine Tochter streichelt er mechanisch, während seine Frau ihn traurig vom Nebenzimmer aus beobachtet.

„Killer of Sheep“, Charles Burnetts UCLA-Abschlussfilm von 1977, in Schwarz-Weiß gedreht, ist bis heute der beste (auch einer der wenigen) Filme über die afroamerikanische Arbeiterklasse – und das Leben im Los-Angeles- Stadtteil Watts. 1990 gehörte der Film zu den ersten 50 Titeln, die in das National Registry der Library of Congress aufgenommen wurden. Trotzdem ist Burnetts Film heute fast unbekannt. Teure Musikrechte machten es jahrelang unmöglich, ihn öffentlich aufzuführen, geschweige denn, ihn auf DVD zu veröffentlichen. 1981 war er schon einmal im Forum der Berlinale zu sehen, damals erhielt er den Kritikerpreis – bevor er über 20 Jahre in der Versenkung verschwand.

Dass „Killer of Sheep“ dieses Jahr in einer restaurierten Fassung nach Berlin zurückkehrt, ist ein später Triumph. Plötzlich wird auch klar, warum Burnett in Kauf genommen hat, den Film all die Jahre nicht aufführen zu können, anstatt einfach auf die Songs zu verzichten. „Killer of Sheep“ ist Musik, eine Symphonie der Großstadt aus einem nie gezeigten sozialen Blickwinkel. Ein urbaner Blues, traurig, aber immer wieder mit hoffnungsvollen Momenten – so wie die Songs von Dinah Washington, Little Walter, Earth, Wind and Fire oder William Grant Still, dessen „Afro-American Symphony“ in einer Schlachthausszene zu hören ist.

Burnett erzählt mit „Killer of Sheep“ keine zusammenhängende Geschichte, hält bloß vereinzelte, manchmal auch komische Momente fest. Bilder aus dem Alltag, fast wie vorgefundene Aufnahmen. Stan beim Kauf eines alten Motors. Die Nachbarskinder beim Spielen zwischen Straßenschutt und Häuserruinen. Stan Arm in Arm mit seiner Frau, zu Dinah Washingtons „Bitter Earth“ tanzend – demselben Song, der später nochmal im Schlachthaus erklingen wird.

Für einen Augenblick glaubt man, dass sie ihren Frieden gefunden haben: ihre zärtlichen Berührungen seines Körpers, die zögerliche Vertrautheit inmitten verheerender Lebensverhältnisse. Aber gerade, als sie sich endlich näher zu kommen scheinen, entzieht Stan sich ihren Annäherungen wieder. Lässt seine Frau stehen, allein vor dem großen Schlafzimmerfenster.

ANDREAS BUSCHE

„Killer of Sheep“. Regie: Charles Burnett. USA 1977. 83 Min. 9.2., 16.30 Uhr, Delphi; 10.2., 10.30 Uhr, Cinestar; 10.2., 22.30 Uhr, Arsenal