Wassertreter, linksdrehend

Dieser kleine Vogel fürchtet sich vor nichts und niemandem. Zudem spottet er den landläufigen Geschlechterrollen: Bei ihm ist das Weibchen das weit prächtigere Tier – und das Männchen kümmert sich um das Gelege und die Aufzucht der Küken. Eine längst fällige Ode auf das Odinshühnchen

von WOLFGANG MÜLLER

In den warmen Quellen von Landmannalaugar, im Herzen Islands, machte ich Bekanntschaft mit einem furchtlosen, zauberhaften Tier. Einem Korken gleich tanzte ein Odinshühnchen auf dem Wasser, nur wenige Zentimeter entfernt von meinem Kopf. Biologen nennen solches Verhalten „pseudozahm“. Mangels Feinden, so erklären sie sich die Furchtlosigkeit, habe sich das Odinshühnchen, das etwa die Größe einer Bachstelze erreicht, die Angst ab- beziehungsweise gar nicht erst angewöhnt. Sehr praktisch ist diese Lebenseinstellung für Gerfalken, Wanderfalken, Schneeeulen und Raubmöwen, die hin und wieder das Vögelchen mit dem Namen des nordischen „Rabengottes“ verspeisen.

Bewegtes Wasser übt offensichtlich eine große Anziehungskraft auf das Odinshühnchen aus, mutmaßt ein amerikanischer Forscher namens R. C. Ross: Einem Mann, der in einem Sumpf watend Wasserpflanzen vernichtete, seien sie gar Futter pickend zwischen den Beinen herumgeschwommen. Verlassen hätten sie ihn erst, als er seine Arbeit einstellte.

Liegt es an der geringen Körpergröße oder an seiner großen Verbreitung? Eigentlich sollte jeder Mensch das Odinshühnchen kennen. Doch irgendwie hat es der zierliche Vogel nie geschafft, größeres Interesse auf sich zu ziehen. Er ist weder berühmt geworden noch zum Symbol einer Bewegung. Dabei ist das Hühnchen, das in den nördlichen Polarregionen brütet, gar nicht mal selten und zugleich in vielerlei Hinsicht höchst ungewöhnlich. „Auf mehrere Millionen“, so der isländische Ornithologe Yann Kolbeinsson, „wird der weltweite Bestand geschätzt. In Island gehen wir von 50.000 Paaren aus.“ Immerhin schmückte das Odinshani, Phalaropus lobatus, dort eine 19-Kronen-Briefmarke.

Auffällig glänzte das rostrote Brustschild, das alle fünf Vögelchen in der warmen Quelle von Landmannalaugar trugen. Dazu piepten sie unentwegt „Witt witt pripp pripp pripp“ und drehten aufgeregt ihre Beinchen im lauwarmen Wasser. „Auf diese Weise wirbeln sie kleine Krebschen nach oben“, erklärt Yann Kolbeinsson. Das sogenannte Kreiselschwimmen, auch als Dreh- oder Karussellschwimmen bezeichnet, sei vermutlich eine effektive Jagdmethode. Laut dem dänischen Vogelexperten Finn Salomonsen ist es übrigens immer linksdrehend. Andere, wie der deutsche Odinshühnchenspezialist Otto Höhn, äußern dagegen den Eindruck, jeder einzelne Vogel sei entweder ein Rechts- oder Linksdreher: „Etwa wie es bei uns Menschen Rechts- und Linkshänder gibt.“ Als höchst unwahrscheinlich, ja absurd gilt dagegen ein Zusammenhang mit der Corioliskraft – dem Phänomen, dass sich beim Wasserabfluss in einer Badewanne ein linksdrehender Strudel einstellt, sofern die Wanne auf der Nordhälfte der Erde steht. Auf der Südseite dreht sich der Strudel nach rechts.

Im warmen Quellwasser des isländischen Hochlandes drehten sich seinerzeit jedenfalls nur weibliche Odinshühnchen. Unverkennbar, denn die Weibchen dieser Spezies sind farbenprächtig, sie haben ein leuchtend rotes Schild auf der Brust. Das hutzelige, etwas kleinere Männchen dagegen ist unscheinbar gefärbt.

Zur Brutzeit sichern sich die Weibchen ein Territorium und wehren jedes andere Weibchen ab, das es wagt, sich diesem auch nur zu nähern. Tritt ein Männchen in Erscheinung, erhebt sich das Weibchen zu einem speziellen Zeremonialflug, bei dem es mit den Flügeln ein schwirrendes Geräusch erzeugt und harsche „Wit wit wit!“-Laute von sich gibt. Trocken stellte der Odinshühnchenexperte Höhn in den prüden 1950er-Jahren fest, dass bei allen Begattungsversuchen das Weibchen „den Anfang machte“. Mehr noch, ein von einem Männchen eingeleiteter Versuch sei vom Weibchen brüsk abgewiesen worden. Nach erfolgter Paarung drehen die Vögel aus der Familie der Wassertreter gemeinsam mehrere Nestmulden aus. In eines davon legt das Weibchen ein Ei; dann fliegt es gern davon – zu den erwähnten warmen Quellen beispielsweise –, während der Odinshahn die Eier allein bebrütet und gleichzeitig mit dem eigentlichen Nestbau beginnt. Ab und zu erscheint das Weibchen, um ein weiteres Ei zu legen. Vier werden es schließlich, blassgrün mit braunen Flecken.

Auch die Kinderpflege obliegt allein dem Männchen. Ein Odinshühnchen, dem vier Junge auf den Fersen sind, ist also immer ein Papa. Der Marburger Maler Adolf Schröter schilderte in seinem unveröffentlichten Manuskript „Islandfahrt eines deutschen Malers“ 1929 eine solche Begegnung: „Ein kleiner Kerl stapste durchs Binsengras wie durch einen Urwald, kleiner als der Däumling mit nadeldünnen Beinchen – ein junges Odinshühnchen. Ich wollte es aufnehmen, aber schnell war der Alte heran, ängstlich klagend breitete er die Flügel über das Junge. Schließlich war der ganze ‚Urwald‘ bevölkert von so kleinen Burschen. Ich zog mich diskret zurück.“

Entzückt über die große Zärtlichkeit und Treue des Odinshahns äußerte sich der Naturwissenschaftler William Preyer, der 1860 den Vogel in Island beobachtete: „Die Gattenliebe dieses allerliebsten Thierchens, welches in uneingeschränkter Monogamie lebt, ist wahrhaft erstaunlich. War ein Weibchen geschossen, so schwamm das Männchen herbei und suchte durch allerlei oft possierliche Manöver die todte Gemahlin wieder zum Leben zu erwecken. Erst wenn der Hund ins Wasser schwamm, um die Beute zu holen, verließ das verwitwete Männchen die Leiche. Aber im Leben bestätigt sich diese eheliche Liebe noch weit auffallender. Wir haben den Odinshahn gewiss fünfzigmal beobachtet und nie allein gefunden, oft hingegen mehrere Paare zusammen. Die Männchen liebkosen das Weibchen mit ihrem Schnabel, erzeigen ihnen allerlei Artigkeiten und suchen sich möglichst liebenswürdig zu machen. Mitunter kann da selbst das abgehärtetste Jägerherz sich nicht entschließen, einen Schuss unter diese sorglos spielenden Thierchen zu tun, die vor dem Menschen durchaus keine Scheu haben.“

Heute geht die Wissenschaft eher davon aus, dass manche Weibchen während der Brutzeit auch gern mal mit anderen Männchen pimpern – ähnlich übrigens wie Blaumeisenweibchen. Auch beim Männchen wurde schon Polygamie beobachtet. „Allerdings nur dann“, schränkt Yann Kolbeinsson beschwichtigend ein, „wenn dem Männchen das Nest verlorengeht. Durch Raub zum Beispiel.“ Aber das sei sehr selten. Zumindest glaubte der deutsche Ornithologe Günter Timmermann in den 1930er-Jahren, in Island auch „gewisse Männchen“ beobachtet zu haben, die Versuche zur Begattung mit „mehr als einem Weibchen machten“.

Auf jeden Fall erklären Wissenschaftler den Rollentausch von Odinshahn und Odinshenne im Allgemeinen gern mit den „äußerst kurzen Vegetationsperioden des Nordens“. Auf diese Weise stünden bei Gelegeverlust ständig „legebereite Weibchen“ zur Verfügung. Wenn sich das Rollenverhalten des Vogels und seine Furchtlosigkeit offenbar evolutionstechnisch als Vorteil erwiesen haben, liegt die Frage nahe, warum sich nicht alle Vögel – zumindest die im Norden – den Wassertreter zum Vorbild genommen haben: Darwins survival of the fittest lässt grüßen. „Eine schwierige Frage“, meint Yann Kolbeinsson, „darüber muss ich erst nachdenken. Lassen Sie mir Zeit.“

Gewisse Forschungen, bei denen Weibchen und Männchen mit Hormonen behandelt wurden, führten, nach der erfolgten „Vermännlichung“ des Weibchens, laut Otto Höhn, zu eher überraschenden Ergebnissen: „Es fragt sich nun, warum die Weibchen nicht auch Brutflecke entwickelten“, rätselt der Wissenschaftler. Immerhin seien sie ausgiebig mit dem für das Brutverhalten wichtigen Hormon Prolaktin behandelt worden. Wurden Vögel beiderlei Geschlechts dagegen mit „männlichen“ Hormonen behandelt, wuchsen neue bunte Federn. Höhn verfasste die einzige größere deutsche Odinshühnchen-Monografie, erschienen 1965 in der Brehm-Bücherei in Wittenberg, DDR. Seine Ausführungen schließt er damit, dass das buntere Gefieder des Weibchens jedenfalls für das Tier „ohne Nachteil“ sei. Deshalb habe sich eine stärkere Bildung des männlichen Sexualhormons entwickeln können, das „die Basis für das buntere Gefieder und aggressivere Verhalten“ wurde. Es bleibt die ungelöste Frage: Wer war wohl zuerst da, das Ei oder die Henne?

Immer wieder führt das Rollenverhalten dieses verkannten Tiers zu Verwirrung. So sind im Nachschlagewerk von Rob Hume, „Vögel entdecken und bestimmen“, 1995 erschienen bei Bertelsmann, prompt die Abbildungen von männlichem und weiblichem Vogel vertauscht. Schon der dänische Forscher Friedrich Faber, der 1826 mit seinem Buch „Über das Leben der hochnordischen Vögel“ das erste Werk über Islands Vogelwelt veröffentlichte, wusste, dass das Weibchen des Odinshühnchens „größer und schöner“ als das Männchen sei. Die Frage, warum und wieso das so ist, stellte er allerdings nicht. Aber ist das Tier, wie er meinte, überhaupt ein „hochnordischer Vogel“ oder ein „subarktischer“, wie es heute heißt? Nur kurze Zeit nämlich, wenige Wochen von Anfang Juni bis August, lebt das Vögelchen auf Island. In derselben Saison, die auch menschlichen Touristen für eine Reise durch das Land empfohlen wird. Danach streift es über die Meere und Küsten Europas in den Süden und verbleibt am Zielort bis Ende Mai des nächsten Jahres.

An ihrem Hauptwohnsitz, also dort, wo sie die meiste Zeit ihres Lebens verbringen, könnten die Geschlechter von Phalaropus lobatus übrigens mit Leichtigkeit verwechselt werden: Denn an den Küsten der Arabischen Halbinsel tragen Odinshahn und Odinshenne beide das graue, sogenannte Schlicht- oder Ruhekleid. Und das ist eindeutig unsexy, äh, unisex.

WOLFGANG MÜLLER, geboren 1957, ist seit seiner Begegnung mit dem Odinshühnchen ein großer Fan des Tieres. Er hat das Odinshühnchen im Song „Casino Álftavatn“ auf seiner CD „Mit Wittgenstein in Krisuvík – 22 Elfensongs für Island“ besungen und mit der „Ungeschriebenen Fabel vom Odinshühnchen“ die erste Fabel verfasst, die über diesen Vogel existiert (in: „Die Elfe im Schlafsack“, Verbrecher Verlag, Berlin 2001)