Menschen brechen

„Mala Zementbaum“ im Maxim Gorki Theater ist ein Stück über die Stasi-Verstrickungen von Thomas Lawinky, der selbst den Führungsoffizier spielt

Unerbittlich fragt Armin Petras mit seinem Stück nach Schuld und Teilhabe

von ANJA MEIER

Es ist Freitagabend in Berlin-Mitte. Im Maxim Gorki Theater spricht ein Mann über seine Scham. Er steht zu einem Verrat, den er als junger Mensch begangen hat. Thomas Lawinky, 42, Schauspieler mit Ostbiografie, setzt sich heute selbst unter Druck, er zieht die Schraube mächtig an.

Das Stück „Mala Zementbaum“, geschrieben von seinem Freund und Intendanten Armin Petras, hat ihn in diese Position gebracht. Denn Lawinky spielt Kevin, einen Stasi-Führungsoffizier, genauer: seinen eigenen Führungsoffizier. Er gibt das Schwein, das vor zwei Jahrzehnten aus dem Opfer Lawinky einen Täter gemacht hat. Der Schauspieler Lawinky muss heute abend quasi selbst dafür sorgen, dass sein jugendliches Alter Ego Homer einknickt, eine Verpflichtungserklärung unterschreibt und zum IM, zum Inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik, wird. Eine grausame Entscheidung von Regisseur Milan Peschel, denn Kevin wird Homer brechen.

Lawinky hat seine Geschichte oft erzählt: aufsässiger Punk und Krimineller aus Magdeburg, Jugendknast, Misshandlungen. Dann äußerliche Abspaltung von sich selbst, Neubeginn: angepasster Arbeiter, SED-Mitglied, zuletzt NVA-Soldat. Dort Stasi-Kontakt, Verpflichtungserklärung, der Verrat an seinem Freund. Nach der Wende kamen Schweigen, Scham und Verdrängung. Und schließlich 2006, nach der sogenannten Spiralblock-Affäre am Theater Frankfurt, folgte Lawinkys öffentliches Bekenntnis. Seitdem hatte er kaum noch Engagements.

Wenn Lawinky, dieser stiernackige schwitzende Typ, auf der nach allen Seiten offenen Podestbühne von Moritz Müller seiner Biografie gegenübertritt – dem Leben derer, die nicht aufrecht durch die DDR-Jahre gekommen sind –, beginnt man sich zu sorgen um den Mann. Schwer atmend und mit hängenden Schultern steht er als Kevin jenem Homer gegenüber, der über die Zeit in der DDR sagt: „Ich war nie wirklich da. Ich war immer nur in Parallelwelten.“

War Lawinky das? Darf er geltend machen, von einem monströsen System unterworfen worden zu sein – wo er doch auch angepasst darin gelebt hat? Armin Petras hat „Mala Zementbaum“ nach intensiven Gesprächen mit Lawinky geschrieben. Sicher ist auch seine eigene DDR-Biografie bis zur Ausreise in den 80er-Jahren eingeflossen.

Dabei ist ein dialoglastiges Stück herausgekommen: Nach Jahren begegnet Homer (Gunnar Teuber) seinem Führungsoffizier Kevin wieder. Beide sind nun Teil eines Modellprojekts zur Erforschung autoritärer Strukturen, die alten Regeln – gespeist aus Angst, Unterwerfung und Konspiration – treten noch einmal in Kraft. Auf Grundlage welcher psychologischen Prozesse der Führungsoffizier es schafft, Homer an den Kanthaken zu nehmen, ist mitunter beklemmend. Ein Text über Entfremdung und Dazugehörenwollen.

Petras macht es Lawinky nicht leicht. Gekonnt evoziert der Text die Paranoia, in der sich viele junge Menschen in der DDR eingerichtet hatten, entblößt die Lawinkys jener Jahre als „Opfertäter, Täteropfer“, wie der Schauspieler sich vor Jahresfrist in der taz selbst beschrieben hat. Petras meint jene Ostler, die in jedem Lehrlingskollektiv, jeder Abiturklasse und jeder Seminargruppe saßen: die Stasi-Typen. Von denen man wusste, dass es sie gibt. Über die man beiläufig rätselte: „Was meinst du, X könnte doch dabei sein. Fragt immer nur, sagt über sich nichts …“

Folgenschwere Verdächtigungen, mit denen soziale Biografien im Handstreich zerstört werden konnten. Vielleicht aber auch – fragt Petras – von der Stasi selbst lancierte Gerüchte, um den Verdächtigten zur Mitarbeit zu zwingen? Oder um den Verdacht auf den einen zu lenken, damit der echte Spitzel in Ruhe arbeiten kann? Die paranoiden Kurven, Ellipsen und Spiralen, in denen sich „Mala Zementbaum“ windet, machen derlei denkbar und auch fühlbar.

Denn Petras stellt die Fragen nach Aktivität und Passivität. Nach Schuld und Teilhabe. Unerbittlich und so lange, bis der Zuschauer selbst nicht mehr recht weiß: Ist die erpresste Tat entschuldbar? Wie hätte ich selbst mich entschieden? Hätte ich widerstanden? Wenn nicht – würde ich heute darüber reden?

Thomas Lawinky jedenfalls hat darüber geredet, wollte zeigen, dass das geht: zu seiner Schande zu stehen. Es ist ihm nicht gut bekommen. Als Schauspieler geriet er ins Abseits, seine Eltern sorgen sich bis heute um den Sohn, sie fürchten die Rache der Stasi für diese späte Dekonspiration …die Paranoia ist alles andere als überwunden.

Nicht ohne Grund zitiert das Begleitheft aus einer psychoanalytischen Untersuchung Inoffizieller Mitarbeiter: „Das auszuspionierende Fremde war … das abgespaltene eigene ‚Böse‘.“ So gesehen ist „Mala Zementbaum“ ein sehr intimes und großzügiges Angebot an einen einzelnen Täter, sich auf einer Bühne selbst zu therapieren. Man könnte dieses Angebot nun auch den Opfern eröffnen. Fraglich, ob das öffentliche Interesse dann auch so groß wäre. Gegen Ende des Stückes fragt Homer seinen Führungsoffizier Kevin: „Willst du nicht mal heulen?“ Lawinky antwortet: „Ach, lass mal.“ Kurz darauf wird er erschossen.

Nächste Vorstellungen: 15./24./28. 2.; am 15. 2. findet um 21.15 Uhr ein Gespräch über die Opfer-/Täterdebatte und den Umgang mit den Stasi-Unterlagen statt. Es diskutieren: Marion Seelig (Linkspartei), Hubertus Knabe (Direktor Gedenkstätte Hohenschönhausen), Armin Petras und Thomas Lawinky