Einmal Luft, bitte, exakt bemessen

Nicht nur der Kunsthandel freut sich über die Wiederkehr der Skulptur – auch dem Auge des Betrachters gibt sie Halt. Das führt die Ausstellung „Die Macht des Dinglichen – Skulptur heute“ mit vielen jungen Künstlern aus Berlin im Georg-Kolbe-Museum vor. Denn in fast jedem Ding steckt auch ein Gegenüber

VON RONALD BERG

Was hätte Georg Kolbe wohl dazu gesagt? Wo sonst seine idealen Bronzemenschen den Besucher im ehemaligen Atelierhaus des Bildhauers empfangen, tummeln sich derzeit ins Riesenhafte aufgeblähte Kuscheltiere, Schimären aus zusammengesetzten Tierkadavern und groteske Fratzen aus Beton, gleich ein ganzes Regal voll. Am ehesten noch erinnert die nur mit Turnschuhen bekleidete Polyesterjoggerin von Marcus Wittmers vor dem Eingang des Museums an die ideale Nacktheit in Kolbes Figuren. Ansonsten hat in dieser von der Bernhard-Heiliger-Stiftung veranstalteten Ausstellung das Ideale ziemlich ausgedient.

Wollte Kolbe noch an einen Wesenskern des Menschlichen appellieren, so besteht Birgit Diekers pummelige „Olga“ nur noch aus etlichen Schichten übereinandergenähter Altkleiderstücke, ähnlich einer russischen Matroschka. Kraterförmige Einschnitte in die Frauengestalt zeigen: Einen festen Kern gibt es nicht, und die Hüllen, mal kariert, mal bunt oder grob gestrickt, machen den Menschen.

Doch es geht in der Ausstellung „Die Macht des Dinglichen“ nicht allein um das Figürliche, auch Abstraktes oder Geometrisches findet sich unter den 24 Künstlerpositionen. Die Wiederkehr der Skulptur als solcher ist das Thema, das der Kurator Marc Wellmann von der Bernhard-Heiliger-Stiftung sich gesetzt hat. Motive, Formen oder Materialien spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Wellmann behauptet mit diesem „Querschnitt durch die Gegenwart“, es gebe einen Trend weg vom Ephemeren, Installativen oder Kontextuellen hin zum autonomen „Dinglichen“. Und das trifft zu: Nachdem in den Sechzigerjahren der Begriff der Kunst erweitert und die Grenzen der Gattungen aufgelöst wurden, sodass am Ende mitunter nicht einmal ein Objekt übrig blieb, geschweige denn eine handelbare Ware, schicken sich viele der jüngsten Künstlergeneration wieder an, das Bedürfnis der Sammler nach dem Dingfesten zu befriedigen.

Zwar ist die Skulptur weit weniger praktisch zu handhaben als das Tafelbild, aber der Markt scheint ein neues Spekulationsfeld zu suchen. „Seit Monaten warten alle darauf, dass die Skulptur doch nun bitte die gemalte Flachware an unseren Wänden ablösen möge“, tönte es bereits aus dem Kunstmagazin Monopol. Die Bedingungen sind günstig: Wirtschafts- und Börsenboom stellen jede Menge Kapital zu Verfügung, die Nachfrage lässt sich mit angesagten Malerstars wie Neo Rauch oder Gerhard Richter im Moment gar nicht decken, und deren gehypte Epigonen werden nach Ende des Neofigurativen-Trends schnell an Attraktivität verlieren.

Die offenbar heiß ersehnte Renaissance der Skulptur ist zugleich eine konservative Wende, auch wenn die einzelnen Arbeiten nicht in jedem Falle zur einstigen Domäne der Skulptur – dem Menschenbild – zurückkehren. Das Figürliche kann dabei zum Anlass genommen werden, mit der traditionellen Besetzung von Materialien und Formaten zu spielen. Jonathan Meese beispielsweise greift nicht nur auf den traditionsreichen Werkstoff der Bronze zurück, sondern bedient sich sogar des klassischen Genres der Büste. Die auf mächtigen Edelholzsockeln thronenden Gebilde leben allerdings mehr vom eruptiven Ausdruck seines Künstlertums als von physiognomischer Ähnlichkeit oder vergeistigtem Idealismus. Doch gerade das Genial-Naive, das Ursprüngliche und Unbedingte macht Meese derzeit zum Sammlerliebling. Seine Skulpturen gehören zu den wenigen Leihgaben aus Privatbesitz in der Ausstellung.

Das Gros der Arbeiten rekrutiert sich aus den Beständen jener „emerging artists“ (überwiegend mit Wohnsitz in Berlin), die die Heiliger-Stiftung durch Stipendien seit 1996 selbst förderte. Harry Hauck etwa gehört dazu. Seine luftgefüllten Gummikuben, so reduziert und minimalistisch sie anmuten, bewahren allerdings noch eine Referenz an das Menschliche. Haucks Gummikörper beinhalten nämlich exakt das Körpervolumen seines Schöpfers. Lebensnähe erreicht Tony Matelli auf andere Art und Weise. Bei seinem von Meerkatzen begleiteten „Wanderer“ handelt es sich um ein Selbstporträt. Zwar ist der Kopf der Figur unproportional vergrößert, aber Matelli treibt seinen Hyperrealismus ansonsten bis in die Wiedergabe der Ekzeme der Haut.

Nicht das Ideale und Zeitlose (wie noch bei Kolbe), sondern das Alltägliche ist heute in der Skulptur die Regel. Oliver van den Berg isoliert Versatzstücke aus der Reklamewelt, etwa das bunt-streifige Blechkleid einer „Spielhölle“, Thomas Rentmeister lässt sich von der kakaobraunen Nutella-Masse aus Kindertagen zu amorphen Polyesterklumpen inspirieren. Und Joel Morrison macht aus der auf Hochglanz polierten „Venus von Milo“ durch Hinzufügung von aufgeblähten Eutern am Kopf seiner Bronzefigur eine Pop-Paraphrase, ein Stück Edelkitsch.

So zeigt sich, dass die vielgestaltige „Skulptur heute“, wie die Ausstellung im Untertitel heißt, sich stark dem Leben zuwendet. Nicht nur thematisch im Abschied vom Idealen, womit sie die gesellschaftlichen Verhältnisse exakt widerspiegelt, sondern auch in ihrer Rolle als dingliches Gegenüber. Damit wird einer Zeit ohne Ideale wenigstens ein dinglicher, das heißt materieller Halt gegeben – ob als Erkenntnisinstrument oder als Ware, bleibt sich gleich.

Georg-Kolbe-Museum, Sensburger Allee 25, bis 28. Mai, Di.–So. 10–17 Uhr