Keine Zeit für Kinder

VON COSIMA SCHMITT

Deutschlands Kinder haben es schwer. Sie leben mit Eltern, die sie anschweigen. Teenager ruinieren ihre Lungen, indem sie häufiger als in anderen Ländern zur Zigarette greifen. Und beim Gedanken an die Zukunft ergreift sie das Grauen: Jeder Dritte glaubt, nie eine qualifizierte Stelle zu finden.

Das UN-Kinderhilfswerk Unicef hat die Lebenslage von Kindern in 21 Industrienationen in einer Studie verglichen. Ihr Ergebnis: Nirgends geht es der Jugend so gut wie in den Niederlanden – und nirgends so schlecht wie in Großbritannien. Deutschland schafft es lediglich ins Mittelfeld. Extremwerte erreicht es vor allem in einem Punkt – nur hier klagt jeder zweite Teenager, dass die Eltern keine Zeit für Gespräche haben.

Zwar sind Analysen, die die soziale Lage in Deutschland bemängeln, keine Seltenheit. Neu aber ist, wie umfassend und international die gestern vorgestellte Studie die Lebensverhältnisse von Kindern durchleuchtet. Die finanzielle Situation ist dabei nur ein Kriterium. Ebenso berücksichtigt wird, wie gesund und gebildet die Kinder sind, wie gut sie sich mit Eltern und Gleichaltrigen verstehen und wie glücklich sie sich fühlen.

Diese Querschnitt-Analyse offenbart Überraschendes: „Es gibt kein wirkliches Vorbildland“, sagt Marta Santos Pais, Leiterin des Unicef-Forschungsinstituts in Florenz. Selbst die skandinavischen Länder, die erwartungsgemäß auf den vorderen Rängen landen, weisen Mängel auf. Finnische Kinder etwa sind zwar gut ausgebildet und gesund. Sie klagen aber besonders oft über ein schlechtes Verhältnis zu Eltern und Gleichaltrigen. In Polen ist die materielle Lage der Kinder eher schlecht – aber in Bildungsfragen ist das Land vorbildlich.

„Andere Länder schaffen für Kinder ein verlässliches Lebensumfeld auch außerhalb der Familie“, sagte Unicef-Geschäftsführer Dietrich Garlichs. Deutschland habe da erheblichen Nachholbedarf. Heide Simonis, Vorsitzende von Unicef Deutschland, wertet die Daten als Beleg, wie wichtig Kitaausbau und familienfreundliche Arbeitszeiten seien: „Wir können Eltern nicht zwingen, sich mehr mit den Kindern zu beschäftigen. Aber wir können die Bedingungen so machen, dass Eltern nicht so gehetzt sind.“

Mit ein paar Pluspunkten immerhin kann Deutschland jetzt schon aufwarten: Deutsche Kinder gehen relativ gerne in die Schule. Sie sind nicht sehr aggressiv. Sie betrinken sich zwar häufiger als Franzosen, aber seltener als junge Briten.

Überhaupt hält der Soziologe Hans Bertram, der eine gesonderte Teilstudie für Deutschland anfertigte, die Kategorie „Mittelmaß“ für irreführend. Typisch für Deutschland seien etwa beim Bildungsstand eher die großen regionalen Unterschiede. „Kinder aus Bremen liegen weit hinter Kindern aus Bayern oder Sachsen zurück – so weit wie Kinder aus Portugal gegenüber Kindern aus Finnland oder Japan“, sagt Bertram.

Allein mit dem Wohlstand eines Bundeslandes lässt sich das nicht erklären. Sachsen etwa gehört, was die materielle Lage der Kinder angeht, zu den Schlusslichtern. Und doch können nirgendwo sonst in Deutschland die 15-Jährigen so gut lesen und rechnen und sind so fit in Naturwissenschaften. Und in kaum einem anderen Bundesland haben die Kinder so gute Chancen, gesund durchs Leben zu gehen.

Die regionale Kluft beginnt schon bei der Geburt. Sachsen etwa kann in punkto Kindersterblichkeit durchaus mit Vorreiter-Ländern wie Island oder Japan mithalten. In Bremen hingegen sterben pro 1.000 Geburten sechs Kinder. Das sind nicht nur doppelt so viele wie in Sachsen. Auch international gesehen ist das eine recht hohe Zahl. „Beschämend“ nennt Bertram solche Werte. Er fordert eine „nationale Debatte“, wie sich die Lage von Kindern in den einzelnen Bundesländern verbessern lässt. „Uns liegt eine Fülle von Daten vor. Jetzt muss die Politik sie auch nutzen“, sagt Bertram.