Alle haben ihre Landkarte im Spiel

AUS KIRKUK INGA ROGG

Nimmt man den Gesichtsausdruck von Herrn Diler als Gradmesser für die Spannungen zwischen den Kurden, Turkmenen und Arabern in Kirkuk, dann müssten bei den Sicherheitskräften die Warnlichter aufleuchten. Der junge Kurde ist Mitarbeiter der Öffentlichkeitsabteilung des Provinzrats der Stadt. Mit einem freundlichen Lächeln führt er eine Gruppe von Journalisten durch einen Bretterverschlag in den ersten Stock des Gouverneursgebäudes zu den Büros der Provinzabgeordneten. Als ihn die Reporter nach den Räumen der turkmenischen Abgeordneten fragen, bleibt Herr Diler wie versteinert stehen, augenblicklich weicht das Lächeln einer eisige Miene. „Da kann ich Ihnen nicht helfen“, sagt Diler. „Die Turkmenen boykottieren den Provinzrat“, schiebt er frostig nach. Dann macht er auf dem Absatz kehrt und entschwindet wieder ins Erdgeschoss.

Gewalt nimmt zu

Kirkuk verfügt nach Schätzungen über die drittgrößten Ölvorkommen im Irak. Bald vier Jahre nach dem Sturz des ehemaligen Regimes ist die Stadt so heruntergekommen wie eh und je. Eine neue Brücke, ein neues Hotel und ein paar wenige schmucke Geschäfte sind die einzigen Zeichen des Wiederaufbaus. Nur im Norden und Osten der Stadt sind große Neubausiedlungen, in denen zumeist ehemalige vertriebene Kurden wieder ein Zuhause gefunden haben. Zwischen 227.000 und 350.000 Kurden sollen mittlerweile nach Kirkuk und Umgebung zurückgekehrt sein. Kurden haben in fast allen Behörden sowie in Polizei und Armee die Führungsposten in der Hand. Doch in jüngster Zeit haben die Bombenanschläge, Morde und Entführungen deutlich zugenommen. Manche Beobachter warnen bereits vor einem Bürgerkrieg.

Im Provinzrat, der im Dezember 2005 gewählt wurde, hat das kurdische Bündnis „Brüderlichkeit“ mit 26 Sitzen fast eine Zweidrittelmehrheit, die Turkmenen und Araber sind darin mit jeweils zwei Vereinigungen und neun beziehungsweise sechs Abgeordneten vertreten. Sie werfen den Kurden vor, alle wichtigen Posten für sich zu beanspruchen, und haben deshalb die Mitarbeit in der Versammlung eingefroren. Die Kurden ihrerseits beschuldigen die anderen, sämtliche Offerten in den Wind zu schlagen und den Provinzrat zu obstruieren.

In seinem Büro im Obergeschoss des Gouverneurssitzes bietet Turhan Hassan frisches Lokum an, eine geleeartige Süßigkeit, die er von seinem letzten Türkeibesuch mitgebracht hat. „Sehen Sie, das ist der Beweis für unsere historischen Gemeinsamkeiten mit der Türkei“, sagt er. „Wir Turkmenen im Irak stellen es auf die gleiche Weise her.“ Damit ist der Chef der achtköpfigen Fraktion der „Front der Irakischen Turkmenen“ gleich beim Thema angelangt – die Identität und Zukunft von Kirkuk. Wie Geschützläufe haben dabei alle Beteiligten tatsächliche und vermeintliche historische Fakten in Stellung gebracht, um ihre Ansprüche zu untermauern.

„Kirkuk ist eine turkmenische Stadt“, sagt Hassan. Dann zieht er eine handgezeichnete Karte hervor, auf der die turkmenischen Siedlungsgebiete im Irak eingezeichnet sind. Diese reichen demnach in einem Bogen von Tell Afar an der syrischen Grenze im Nordwesten über Mossul, Erbil und Kirkuk bis nach Kifri, Khanakin und Mandali an der iranischen Grenze im Südosten. Dass die Turkmenen in all diesen Gebieten eine starke Minderheit und manchmal sogar die Mehrheit bilden, stellt im Irak kaum jemand in Frage. Erste turkmenische Siedlungen lassen sich im Nordirak bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen, als islamisierte Turkstämme aus Zentralasien nach Vorderasien drangen. In dem Gebiet, das sie „Turkmeneli“ („Land der Turkmenen“) nennen, würden die Turkmenen eine Autonomieregion ausrufen, sollten sich die Kurden Kirkuk einverleiben wollen, sagt der 45-jährige Landwirtschaftsingenieur. „Kirkuk ist keine kurdische Stadt, und das wird es auch nie werden.“

Ankara hat sich wiederholt zur selbst ernannten Schutzmacht der Turkmenen im Irak erkoren und dabei unmissverständlich klar gemacht, dass Kirkuk nicht unter die Kontrolle der Kurden fallen dürfe. Ohnehin beobachtet man in der Türkei den kurdischen Teilstaat im Nordirak mit Argwohn. Sollte diesem auch noch Kirkuk zufallen, wäre dies das Fanal für die Gründung eines kurdischen Staats, lautet dort eine weit verbreitete Meinung. Dabei goss der türkische Regierungschef Recep Tayyib Erdogan kürzlich zusätzlich Öl ins Feuer, indem er sich für die Verschiebung des für Ende des Jahres geplanten Referendums über den Status von Kirkuk aussprach. Zugleich forderte Erdogan einen Sonderstatus für die Region.

Nicht weniger gereizt als im Büro der Turkmenenfront ist der Ton im Hauptquartier der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP). Das Gebäude im Nordosten der Stadt ist mit hohen Sprengschutzwänden umgeben, die Zufahrt mit Betonklötzen verbarrikadiert. Schwarze Rußspuren zeugen vom letzten Autobombenanschlag, der erst ein paar Tage zurückliegt. Die Türkei werde sich hüten, sich wegen Kirkuk auf ein Militärabenteuer im Nordirak einzulassen, sagt Parteichef Nejat Hassan. „Niemand wird so verrückt sein, sich freiwillig in die Hölle zu begeben. Sie wissen genau, wer hier an der Macht ist.“ Mindestens 70.000 Peschmerga halten die Kurden nach eigenen Angaben unter Waffen, und dass die Kämpfer bereit wären, die Schlacht um Kirkuk zu führen, daran zweifelt in Kurdistan kaum jemand. So weit werde es aber nicht kommen, sagt Hassans Parteikollege Kamal Mohammed, der für die Kurden im Provinzrat sitzt. „Die Türkei ist ein wichtiger Nachbar, mit dem wir gute Beziehungen unterhalten wollen.“ Doch im Streit um Kirkuk bleibt auch er hart. „Kirkuk gehört historisch und geographisch zu Kurdistan.“ Deshalb gebe es an der Umsetzung von Artikel 140 auch nichts zu rütteln.

Wie die Turkmenen haben auch die Kurden aus ihrer Sicht die historischen Fakten auf ihrer Seite. In ihren Parteiräumen hat die KDP eine osmanische Karte aus dem 19. Jahrhundert aufgehängt. „Kurdistan“ steht darauf über einem Gebiet, das in etwa dem entspricht, das die Kurden heute für sich beanspruchen. „Das ist der Beweis, dass Kirkuk auch damals ein Teil von Kurdistan war“, sagt ein Parteifunktionär. In einem „Atlas“ haben die Kurden minutiös nachgezeichnet, wie vor allem das Saddam-Regime die Verwaltungsgrenzen der Provinz Kirkuk so veränderte, dass die Stadt nach und nach ihr kurdisches, aber auch turkmenisches Umland verlor.

Heute verteilen sich die Gebiete auf insgesamt vier Provinzen. Die Kurden fordern nicht nur die Wiederherstellung der alten Verwaltungsbezirke, was ihnen in der Provinz automatisch eine Mehrheit brächte, sondern auch, dass alle Araber, die nach 1957 nach Kirkuk kamen, in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren. Insbesondere mehrere tausend Araber, die während der „Arabisierung“ vom Saddam-Regime angesiedelt wurden, müssten dann Kirkuk verlassen.

Obwohl der gesamte Prozess bis Ende März abgeschlossen sein soll, hat sich die irakische Regierung erst jetzt auf die längst in Aussicht gestellten Kompensationen geeinigt. Jede rückkehrwillige Familie soll ein Stück Land und umgerechnet rund 15.000 Dollar Entschädigung erhalten. Unter den arabischen Vertretern im Provinzrat hat die Regierung damit einen Proteststurm ausgelöst. „Das ist eine Form der erzwungenen Migration“, sagt Mohammed Khalil. Der prominente sunnitische Abgeordnete hat gar mit Austritt aus dem so genannten Normalisierungsausschuss gedroht, sollte der Beschluss umgesetzt werden. In schrillen Tönen malte die radikale Vereinigung der sunnitischen Religionsgelehrten bereits „ethnische Säuberungen“ an die Wand.

Plädoyer für Sonderstatus

In der Hitzigkeit des Streits um Kirkuk scheint derzeit nur Tahsin Mohammed einen kühlen Kopf zu bewahren. „Für alle Probleme gibt es eine politische Lösung“, sagt der Politiker. „Wir dürfen nur den Dialog nicht abreißen lassen.“ Der 41-jährige Mechaniker vertritt im Provinzparlament und in der „Normalisierungskommission“ die schiitischen Turkmenen, die etwa die Hälfte aller Turkmenen im Irak ausmachen. Obwohl auch er ein düsteres Bild von der Lage der Turkmenen zeichnet, lehnt er ein Autonomiegebiet ab. Die Turkmenen müssten aber sowohl in der Regierung wie in allen Institutionen besser repräsentiert werden und volle kulturelle Rechte erhalten, sagt der 41-Jährige. Persönlich trete er dafür ein, Kirkuk zur Sonderregion zu erklären, denn dies würde der Besonderheit der Region mit ihrem Vielvölkergemisch am ehesten gerecht.

Tahsin Mohammed plädiert dafür, die UNO als Vermittlerin einzuschalten. Das lehnen die Kurden bisher freilich rigoros ab. Und obwohl Herrn Dilers eisige Miene eine andere Sprache spricht, gibt es aber auch unter den Kurden gemäßigte Stimmen. „Es darf auf keinen Fall zum Bürgerkrieg kommen“, sagte Khaman Thaib, Abgeordnete im kurdischen Regionalparlament in Erbil. Andere Abgeordnete stimmen der Anwältin zu. „Das wäre der Kampf um Kirkuk nicht wert.“