„Heibaudi“ & die neue Freiheit

Männer waren vielleicht für die Liebe und solche Nebensächlichkeiten da. Aber Frauen, das war das wirklich Essenzielle, das Leben. Die Geschichte der Hildegard Margis

VON CHRISTINA VON BRAUN

Die wenigen Quellen meiner Familiengeschichte unterscheiden sich auf fast klischeehafte Weise nach geschlechtlichen Mustern. Männer schreiben Memoiren. Frauen führen Tagebücher. Memoiren, aus dem Rückblick verfasst, verführen dazu, die eigene Geschichte mit „der Geschichte“ in Einklang zu bringen. Sie treten in jedem Sinne des Wortes die Herrschaft über die Vergangenheit an. Tagebücher hingegen sind aus dem „Jetzt“ geschrieben, die Verfasserinnen wissen nicht, wie der weitere Verlauf „der Geschichte“ sein wird.

Ich möchte etwas von dem aufspüren, was nicht in die offizielle Geschichtsschreibung eingeflossen ist. Es gab schon immer eine spezifisch „weibliche“ Art von Nachrichtenkette, die aus Familiengeheimnissen, aus verschlüsselten Botschaften oder dem Unsagbaren bestand. Vermutlich deshalb, weil den Frauen die offiziellen Kanäle der Geschichte so lange versperrt blieben.

Mein Buch heißt „Stille Post“ – wie das Kinderspiel, bei dem Informationen von einem Ohr zum anderen weitergeflüstert werden. Am Ende der Kette ist die Botschaft nicht mehr die, die sie am Anfang war. Der „Stillen Post“ ist die Wahrheit egal. Sie gibt weiter, was der Empfänger hören will. Sie verwandelt ihre Nachrichten. Und dennoch, erstaunlich genug, bin ich immer mehr zur Erkenntnis gelangt, dass die Gesellschaft ein gut Teil ihrer Erinnerungen einer Art „Stillen Post“ anvertraut, vielleicht sogar die wichtigsten: all das, was verschwiegen wird, aber nicht verlorengehen darf.

Meine Großmutter, Hildegard Margis, die 1944 drei Monate nach meiner Geburt in einem Berliner Gefängnis starb, war der Anlass für dieses Buch. Es war nicht einfach, Genaueres über sie zu erfahren. Ihr Haus wurde zerbombt, ihre Möbel, Akten und Erinnerungsstücke fielen der Plünderung zum Opfer. Meine Mutter, die wie ihre Mutter Hildegard hieß, besaß so gut wie nichts von ihr. Sie wollte ihre Mutter, glaube ich, gerne vergessen. Mein Onkel Hans, der Bruder meiner Mutter, lebte in Australien. Die wenigen Unterlagen, die er über seine Mutter besaß, sind in einem Buschfeuer verbrannt. Es ist fast ein Wunder, dass ich überhaupt etwas über meine Großmutter herausfinden konnte. In den Berliner Archiven – Landesarchiv, Verlagsarchiv, Siemens-Archiv – fand ich schließlich ein paar konkrete Hinweise.

Die andere Frau entwickelte sich erst später, als Hildegard Margis nach dem Tod ihres Mannes auf sich selbst gestellt war und sich völlig neu orientieren musste, wie so viele Frauen dieser Generation. Eine seltsame Koinzidenz: Die Frauen, die 1919 erstmals das Stimmrecht erhielten, entwickelten ungeahnte Kräfte, wie ich es bei meiner Großmutter entdeckt habe. Was kam zuerst? War das Stimmrecht eine Folge der Kräfte oder die Kräfte die Folge des Stimmrechts?

In den unmittelbaren Nachkriegsjahren [nach dem Ersten Weltkrieg; Anm. der Red.] lebte Hildegard mit ihren Kindern am Rande des Existenzminimums. Nicht einmal die Straßenbahn konnten sie sich leisten. Hildegards Tätigkeit als Lehrerin brachte wenig ein. So kam sie eines Tages auf die Idee, eine Zeitschrift zu gründen, die Verbraucherinformationen an Privathaushalte und Zeitungen verteilte. Damit hatte sie eine Marktlücke entdeckt. Die Industrie brachte ständig neue Produkte auf den Markt, und keiner wusste, wie man damit umgehen sollte. Wie sollte man wissen, was preiswert und haltbar ist? Hildegard gründete mit Hilfe einer Schreibmaschine und ihrer eigenen Arbeitskraft ein kleines „Unternehmen“: HuW (Haushalt und Wirtschaft).

Die Informationen wurden mit Kohlepapierdurchschlägen vervielfältigt, aber damit konnte man nur wenige Kopien machen. Die Nachfrage nach den Informationsblättern wuchs. Hildegard wollte den Betrieb ausbauen, doch die Inflation zerschlug diese Hoffnungen. Ihr Sohn Hans, damals noch Kind, erinnerte sich: „Ich fand einmal eine Banknote auf der Straße mit unendlich langen Reihen von Nullen und ging damit zum Bäcker in der Hoffnung, ein Stück Kuchen zu erwerben. Der Schein war ein trockenes Brötchen wert. Und das war erst der Beginn der Inflation.“

Dann geschah ein Wunder: Ethel Rose Taylor, eine amerikanische Freundin, schickte Hildegard Margis fünf Dollar. Zu dieser Zeit ein Vermögen: Davon konnte Hildegard eine ganze Büroausstattung und eine Unmenge Papier kaufen. HuW verwandelte sich in ein kleines Imperium, und das Selbstvertrauen der frischgebackenen Unternehmerin wuchs. Hildegard stellte Leute ein. Die Informationsblätter wurden mit Wäschekörben auf die Post gebracht – so wie das Papiergeld in Wäschekörben auf die Banken getragen wurde. Hans bemerkte ironisch in den Aufzeichnungen für seine Kinder: „In dieser Zeit hatte man keine Angst vor Banküberfällen. Die Diebe hätten das Geld gar nicht davontragen können.“ Druck und Versand der Informationsblätter wurde an professionelle Druckereien gegeben. Hildegard engagierte zwei Sekretärinnen und tat sich mit anderen Frauen zusammen. Gemeinsam gründeten sie einen Hauswirtschaftlichen Einkaufs-, Beratungs- und Auskunftsdienst, „Heibaudi“. Es wurden Büros angemietet, in denen die modernsten Haushaltsgeräte ausgestellt und Beratungen durchgeführt wurden: Firmen holten sich Informationen über Geräte ein, Privatkunden ließen sich über Gehaltsfragen oder Familienrecht beraten. Und es gab eine Kochschule.

St. Roman de Codières, den 4. August 2006

Liebe Großmutter,

es wird Dich freuen, zu hören, dass sich Ethel Rose Taylor auch nach Deinem Tod um Deine Kinder kümmerte. Sie schrieb an Hans, als er im Lager in Australien saß, und unterstützte ihn, soweit sie konnte. Sie kümmerte sich um Hilde und ihren Mann Sigis, als die beiden 1946 nicht wussten, wohin sie gehen sollten. Sie war wahrlich eine treue Freundin – über zwei Generationen und zwei Weltkriege.

Bei Hildegard ging es von nun an ständig und rasant aufwärts. Die Aktivitäten im Bereich der Hausfrauen- und Verbraucherberatung waren so erfolgreich, dass sich große Firmen wie Siemens, AEG und die Gasindustrie für diese „Unternehmerin“ zu interessieren begannen. Die Elektroindustrie bot ihr Geld, damit sie sich in ihren Hausfrauenblättern für die Elektrifizierung der Haushalte einsetzte. Das tat sie mit viel Geschick, wie ich nachlesen konnte, indem sie die Vorteile der neuesten Technik vorstellte. Im Siemens-Jahrbuch von 1929 wurde ein Artikel von Hildegard Margis aus früheren Jahren über die elektrische Brat- und Backröhre nachgedruckt: „Die Tatsache, dass beispielsweise in möblierten Wohnungen, in Zimmern zumal, die keine Gasleitung haben, eine vollkommene Speisenfolge hergestellt werden kann, mittels eines Gerätes, dessen Anschaffung dank seines vergleichsweise niedrig gehaltenen Preises auch für minderbemittelte Familien im Bereich der Möglichkeiten liegt, muss den Besitzeswert der Röhre wesentlich erhöhen.“

Bald danach bot ihr die Gasindustrie Geld dafür, dass sie die Vorteile des elektrischen Haushalts nicht gar zu sehr hervorhob. Sie kassierte von beiden Seiten – und wurde zugleich zur Vorkämpferin des technischen Fortschritts. Das Buch „Zeitgemäßes Kochen“ beginnt sie mit den Worten: „Wer nicht mit der Welt mitgeht, wer missmutig hinter dem Ofen hockt und voll Verachtung auf die Fortschritte über, unter, neben sich sieht, der führt ein bemitleidenswertes Dasein. Unser Zeitalter der Technik verlangt gebieterisch von jedem Einzelnen, dass er sich seine Errungenschaften zunutze macht, um nicht überrannt zu werden von den Ereignissen und nicht beherrscht zu werden da, wo er eigentlich herrschen sollte.“

Sie genoss es, das Geld. Hilde behauptete zwar, dass ihre Mutter einen schrecklichen Geschmack hatte – „Braune Schuhe zu einer schwarzen Tasche!“ –, aber das hielt sie nicht davon ab, in den teuersten Läden Berlins einzukaufen. Das Geld war dazu da, sich Freiheit zu erkaufen. Freiheit wovon? Von Männern? Von politischer Abhängigkeit? Es muss etwas in dieser Art gewesen sein.

Gegen Ende der 1920er-Jahre, so sagte ihr Sohn Hans, war Hildegard eine der bestverdienenden Frauen Deutschlands. Die Familie bezog eine Wohnung mit acht Zimmern am Kaiserdamm Nr. 21. Der Haushalt beschäftigte eine Köchin, ein Dienstmädchen und zwei Sekretärinnen. Später kaufte sie ein ansehnliches Grundstück auf der Lyckallee in Charlottenburg, um dort ein Haus zu bauen. Es war eines der ersten vollelektrifizierten Häuser Deutschlands.

Die Elektroindustrie zeigte sich erkenntlich: Das Haus von Hildegard Margis wurde nicht nur mit einer elektrischen Küche ausgestattet, sondern auch mit automatischen Sicherungen (die damals neu waren). Alle Räume verfügten über ein Haustelefon. In mehreren Zimmern gab es Radiolautsprecher. Damals muss das Haus etwa so gewesen sein wie die Vorzeigehäuser der Telekom heute. Finanziert wurde es von Siemens. Die Firma verlangte dafür, dass gelegentlich Führungen durch die Villa stattfinden durften. In den 1950er-Jahren haben meine Eltern das von einer Bombe schwer beschädigte Haus und Grundstück verkauft.

St. Roman de Codières, den 7. August 2006

Liebe Großmutter,

Hilde und Hans beanspruchten nicht nur beide das Privileg, Dein Lieblingskind gewesen zu sein, sie hatten auch unterschiedliche Vorstellungen von Deinem Liebesleben: Hilde war überzeugt, Du seiest lesbisch. Wirklich interessiert hätten Dich nur die Frauen. Hans behauptet, er könne sich an mindestens einen Liebhaber von Dir gut erinnern, ein Mann namens Dieter Mende, der im Justizministerium gearbeitet habe: „Oft, wenn ich spätabends nach Hause kam, saßen sie noch im Wohnzimmer. Als ich einmal verfrüht von einer Reise wiederkehrte, habe ich ihn und Mutti in sehr hastig übergezogenen Kleidern vorgefunden. Ich mochte ihn, Hilde mochte ihn nicht. Er war jüdisch. Ich weiß nicht, ob er den Holocaust überlebt hat.“

Wahrscheinlich stimmt sowohl Hildes Einschätzung als auch die von Hans. Es gab in Eurer Generation von Frauen einen bestimmten Frauentypus, der mich immer fasziniert hat: fest entschlossen, sich die neue Freiheit nicht nehmen zu lassen. Dazu musstet Ihr zusammenhalten, und ich kann mir vorstellen, wie tief diese Art von Solidarität in die Gefühlswelt eingreift. Männer waren für die Liebe und solche Nebensächlichkeiten da. Aber Frauen, das war das wirklich Existenzielle, das Leben, nicht wahr?

Ich versuche manchmal, meinen Studierenden klarzumachen, wie rasant schnell sich damals die Lebensbedingungen von Frauen veränderten. Es ist für sie kaum vorstellbar. Nicht alle, aber einige von Euch haben damals ihre Chance ergriffen. Dass viele von Euch Witwen waren, spielte dabei sicherlich eine Rolle. Kein Mann, der Euch bevormundete und Euch sagte, wo’s langgeht!

Seit Ende der 1920er-Jahre war Hildegard Margis in Berlin und weit darüber hinaus sehr bekannt. Sie wurde in den Vorstand mehrerer Frauenorganisationen berufen, leitete den Hausfrauenverband und erhielt zahlreiche Einladungen zu öffentlichen Vorträgen (natürlich gut bezahlt!). Sie sprach im Radio zu Themen wie „Was die Käuferin von heute wissen muss“, propagierte den Konsum von Seefisch oder Milch oder berichtete über „Internationale Frauenfragen“.

Die politischen Parteien wurden auf Hildegard Margis und die Hausfrauennetzwerke aufmerksam. Frauen waren zu einem wichtigen Faktor des politischen Kalküls geworden. Da kam eine Frau, die das riesige Wählerinnenpotenzial der Hausfrauen ansprach, gerade recht. Gustav Stresemann suchte Kontakt zu Hildegard Margis, forderte sie auf, der Deutschen Volkspartei beizutreten und für den Reichstag zu kandidieren. Das tat sie.

Es reichte zwar dann nicht für ein Mandat im Reichstag, aber sie spielte eine Rolle in der Kommunalpolitik. Schon im Frühling 1922 wurde sie als Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg verzeichnet. Sie saß in den Ausschüssen für das Gesundheits- und Ernährungswesen und war zuständig für die höheren Lehranstalten. Sie wurde in den Vorstand zahlreicher Wohltätigkeitsorganisationen gewählt: des Vereins gegen Verarmung, des Vaterländischen Frauenvereins, der unter anderem die Kindererholungsstätte Eichkamp betrieb. Außerdem wurde sie zum Mitglied des Reichswirtschaftsrates ernannt, als Vertreterin der Verbraucherinteressen.

Wenn sie zu Vorträgen in andere Städte fuhr, stellten ihr Siemens oder eine andere Firma einen Wagen zur Verfügung. Gelegentlich durften ihre Kinder sie begleiten. Sie kaufte sich ein Auto – selbstverständlich musste es ein Mercedes-Cabrio sein – und lernte Auto fahren. Weil sie aber, laut Hans, eine miserable Autofahrerin war, engagierte sie einen Chauffeur.

Keine zehn Jahre nachdem sie ihr kleines Informationsblatt gegründet hatte, bewegte sich Hildegard Margis mit der größten Selbstverständlichkeit in einflussreichen politischen und wirtschaftlichen Kreisen Berlins. Die Wohnung am Kaiserdamm, später das Haus in der Lyckallee wurden zu einem gesellschaftlichen Treffpunkt. Hier verkehrten Regierungsmitglieder, Diplomaten und Leute aus Verlagswesen und Industrie.

1928 gründete Hildegard Margis zusammen mit der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart einen eigenen Verlag für Hauswirtschaft, der sich mit Kochbüchern und Expertisen zu Haushaltsfragen an Hausfrauen und Fachleute wendete. Er bildete einen Teil des umfangreichen Fachbuchprogramms der Deutschen Verlags-Anstalt. 1930 schloss sie einen Vertrag mit dem Ullstein Verlag. Sie erhielt im Verlagshaus eigene Büroräume und gab eine Reihe von Texten zu Frauenfragen heraus.

Innerhalb der Frauenbewegung der 1920er-Jahre war die Rationalisierung des Haushalts dringlich geworden, weil der Krieg viele Witwen hinterlassen hatte und Frauen zu Familienernährerinnen geworden waren, die zugleich den Haushalt zu versorgen hatten. Die Situation verlangte nach Zeitökonomie. Hinzu kamen die Zwänge der Wohnungsnot. „Eine reale Denkungsweise“, so schrieb sie, „fordert kategorisch die Beschränkung auf absolute Zweckmäßigkeit. Der Begriff der ‚kalten Pracht‘, die vor dem Kriege, selbst für den kleinsten Mittelstand, ein erstrebenswertes Schönheitsideal bildete, ist ein unverstandenes Märchen geworden.“

In dieser neuen, pragmatischen und innovativen Wohnungsästhetik, die von den Zwängen der Ökonomie wie von dem Bedürfnis nach einfacher Lebensorganisation bestimmt war, spielten Frauen eine wichtige Rolle. Sie entwickelten völlig neue Ideen der Raumgestaltung. Bei einigen dieser Frauen verband sich der Fortschrittsgedanke mit traditionellen bürgerlichen Idealen. So auch bei Hildegard Margis. In einem Aufsatz über „Durchdachte Hausarbeit“ schrieb sie 1928: „Der Wiederaufbau unserer Gesellschaft, wenn er mehr sein soll als ein bloßes Schlagwort, muss seinen Ausdruck finden in dem Heim des Volkes. Um das zu erreichen, muss die Frau ihre ganze Persönlichkeit entfalten können; ihre Arbeit muss unter so guten Bedingungen geleistet werden, dass sie Zeit behält, nicht nur ihre Kinder zu ernähren und zu kleiden, sondern auch ihren Geist und Charakter zu bilden. Wir können hoffen und vertrauen, dass unter diesem Gesichtswinkel die Rationalisierung der Hauswirtschaft das Gebiet ist, auf dem eine Weltsprache gesprochen wird.“

So patriotisch das Anliegen der Hausfrauenvereine auch war, der Bezug zur „Weltsprache“ verrät, dass sich der Blick dieser selbstbewussten Frauen nun nach außen, in „die Welt“ richtete, vor allem nach England und in die USA, wo die moderne Haushaltstechnik am weitesten fortgeschritten war. Über die gemeinsame Sprache drang auch Gedankengut nach Deutschland, das nicht nur den „Dolchstoß“, den „Versailler Verrat“ und die „Wiedererweckung des Deutschen Reichs“ zum Thema hatte.

Hildegard Margis berichtete im Radio und in gedruckten Publikationen über „Amerikanische Maßnahmen zur Rationalisierung des Haushaltes“. Ausgerechnet Hausfrauenverbände trugen zu einer Öffnung des Horizonts bei: Diese auf sich selbst gestellten Frauen hatten andere Sorgen als die Wiederherstellung der „Ehre“ auf dem Feld.

Es gibt ein Foto, das Erich Salomon in den 30er-Jahren gemacht hat und das ich erst vor kurzem entdeckte. Es zeigt vier Frauen in ein Gespräch vertieft. Sie sitzen an einem Tisch, an dem vorher ein größeres Diner stattgefunden haben muss, und tragen Abendgarderobe. Es ist der Moment, in dem sich die Herren früher mit einer Zigarre ins „Herrenzimmer“ zurückzogen, um über Politik und anderes zu reden, von dem Frauen nichts verstehen. Auch die Frauen haben sich zurückgezogen: in eine Frauenwelt. Und auch hier wird über Politik und andere Dinge gesprochen, von denen Männer nichts verstehen.

Eine von den vier Frauen ist verdeckt, von zwei anderen weiß man die Namen. Es sind Ada Schmidt-Beil und Katharina von Kardorff, zwei bekannte Frauenrechtlerinnen der Weimarer Republik. Die vierte Frau sieht man nur von der Seite: Sie hat den Rest der Gesellschaft völlig vergessen und liegt mit dem Bauch weit über den Tisch gelehnt, ins Gespräch mit den anderen Frauen vertieft. Als ich das Foto zum ersten Mal sah, dachte ich unwillkürlich: Diese Frau muss meine Großmutter sein. Se non è vero, è ben trovato.

1931 veröffentlichte Ada Schmidt-Beil einen umfangreichen Band (632 Seiten!) unter dem Titel „Die Kultur der Frau. Eine Lebenssymphonie der Frau des XX. Jahrhunderts“. In diesem Buch schrieben viele, insgesamt 85, bekannte Frauen der Weimarer Republik, darunter Dora Benjamin, Renée Sintenis, Alice Salomon, Marie Juchacz, Else Lüders, Lily von Schnitzler. Es ging quer durch alle sozialen Schichten und politischen Bewegungen – mit Ausnahme der Kommunisten und der Nationalsozialisten; beide politische Strömungen sind in dem Buch nicht vertreten.

Katharina von Kardorff stellt hier die Frage: „Brauchen wir eine Frauenpartei?“ Nicht ganz überraschend kam sie zu dem Schluss, dass das nicht nötig sei. Die Frage ist ohnehin immer nur von bürgerlichen Frauen gestellt worden – Frauen der KPD oder Sozialdemokratinnen kam sie nicht in den Sinn. Aber auch unter den bürgerlichen Frauen hatte die Frauenpartei keine gute Presse. Dagegen sind mehrere Aufsätze in diesem Band der Hausfrau und dem Haushalt gewidmet, darunter einer von Hildegard Margis, der den Titel trägt: „Zur Psychologie der Technik im Haushalt“. Unter „Psychologie“ verstand sie die Fähigkeit, mit den Haushaltsgeräten korrekt umzugehen und deren Fehlbedienung nicht den „unpädagogischen Gebrauchsanweisungen“ anzulasten.

Anfang der 1930er-Jahre ging es also schon nicht mehr nur um die Einführung eines neuen technischen Haushaltsgeräts, sondern um die Unterscheidung zwischen den vielen Möglichkeiten, die die einzelnen boten.

Das eigentliche Anliegen von Hildegard Margis war nun die „geistige Durchdringung des Haushaltbetriebes“. Dieser sollte so angelegt sein, dass „der Erfolg der Arbeit“ bewertet wird und nicht etwa „diejenige Hausfrau als die beste angesehen wird, die sich am meisten abrackert“.

St. Roman de Codières, den 9. August 2006

Liebe Großmutter,

es wird Dich vielleicht wundern, aber viele der Namen in dem Band „Die Kultur der Frau“ sind mir aus meinen Recherchen über die Geschichte der Frauenbewegung bekannt. Beim Lesen der Namen dachte ich: Vielleicht ist es ja nicht zwingend, dass die Namen von Frauen aus „der Geschichte“ verschwinden. Vielleicht setzt sich eine Form von bewusster Erinnerung durch, in der auch für Frauen mehr Platz ist. Das war jedenfalls das Ziel der ersten historischen Frauenforschung nach 1945.

Es hat lange gedauert, bevor es überhaupt eine Frauenforschung gab. Die Nazis hatten mit der Erbschaft, die die Frauen Deiner Generation hinterlassen hatten, gründlich aufgeräumt – und es bedurfte mehr als einer Generation, bevor Frauen wieder dort anschließen konnten, wo Ihr aufgehört habt.

Inzwischen frage ich mich, ob es deshalb diese verschwiegene Erinnerungskette der „Stillen Post“ gibt: Die Nachrichten gehen in den Untergrund, aber irgendwann tauchen sie eben wieder auf. Zwar habe ich nur wenig Biografisches über Dich finden können, aber in Deinen eigenen Schriften teilt sich – zwischen den Zeilen – auch einiges über Dich mit. Es entstand allmählich dieses Bild von Dir, das mir Bewunderung abverlangt. Darüber hinaus stellte ich fest, dass ich dieser Großmutter, die ich nie kennenlernte, schon längst in Büchern und Filmen begegnet bin, darunter meinen eigenen Filmen und Büchern. Ihr, die Frauen der 1920er-Jahre in Berlin, wart mutig, innovativ, manchmal auch witzig und gerissen. Ihr wart nicht immer rechtschaffen (wie Du mit Gas- und Elektroindustrie umgegangen bist, war nicht ganz koscher!), aber ebendeshalb habt Ihr den anderen zu schaffen gemacht.

Früher habe ich meine Interessen auf eine abstrakte, „historische“ Ebene verschoben – schön weit weg vom Selbst. Der „eigentlichen“ Sache konnte ich mich vielleicht erst zuwenden, als niemand mehr da war, der hereinreden kann. Das gehört zu den Eigenschaften der „Stillen Post“: Über die Botschaften, die weitergegeben werden, bestimmt jeder Teilnehmer neu.

CHRISTINA VON BRAUN, Jahrgang 1944, ist Autorin, Filmemacherin und seit 1994 Professorin für Kulturwissenschaftlerin an der Humboldt-Uni Berlin. Der Text dieser Seiten stammt aus ihrem Buch „Stille Post“ (Propyläen Verlag, 416 Seiten, 22 Euro), das am 1. März erscheint. „Stille Post“ ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert