Gefühlte Heimat

Applaus von der falschen Seite wird der ARD-Zweiteiler „Die Flucht“ sicher nicht bekommen. Unter anderem deshalb, weil man sich den Hinweis auf die „Vertreibung“ im Filmtitel gespart hat

VON STEFFEN GRIMBERG

„Vertriebener ist, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger seinen Wohnsitz in den ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten oder in den Gebieten außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstande vom 31. Dezember 1937 hatte und diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung, insbesondere durch Ausweisung oder Flucht, verloren hat“, lautet die Definition in Paragraf 1 des „Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge“. Sie präzisiert: „Bei mehrfachem Wohnsitz muß derjenige Wohnsitz verlorengegangen sein, der für die persönlichen Lebensverhältnisse des Betroffenen bestimmend war.“

Ob Lena Gräfin von Mahlenberg nach dieser Definition überhaupt eine Vertriebene ist, darüber gibt der ARD-Zweiteiler „Die Flucht“, der gestern Abend schon auf Arte lief, keine klare Antwort: Die schöne Grafin, mit spröder Nonchalance von Maria Furtwängler gespielt, kommt erst kurz vor Kriegsende nach jahrelanger Abwesenheit wieder aufs väterliche Gut nach Ostpreußen, um den schwerkranken Vater zu besuchen. Von dort aus leitet sie wenige Wochen später dann die Flucht, den Treck nach Westen.

Dass ihre gefühlte Heimat dann doch genau hier, an diesem – im Film übrigens litauischen – Flecken Erde mit seinen weiten Wäldern und hohen Himmeln hängt, erzwingt dann schon die Dramaturgie: „Flucht und Vertreibung“ sollte das insgesamt 180-minütige Werk, mit dem die ARD an die Erfolge des ZDF-Zweiteilers „Dresden“ (2006) anknüpfen will, zunächst auch heißen. Doch Nico Hofmann, mit seiner Produktionsfirma Teamworx für „Dresden“ wie „Die Flucht“ verantwortlich, setzte den knapperen Titel durch. „Als Anhänger der vereinfachten Titel war ich vehement dagegen, diesen Eventfilm ‚Flucht und Vertreibung‘ zu nennen“, sagt er – dass klinge zu sehr „wie ein Lehrstück im Dritten Programm mit anschließender Podiumsdiskussion der Fernsehdirektoren“. Nun flankiert das Erste – wie auch einige Dritte – den Sendetermin durchaus mit einordnenden Dokumentationen zum Thema (Termine siehe unten).

Doch auch „Die Flucht“ selbst bleibt bei allem Respekt vor der teilweise großartigen Leistung der Schauspieler auch auf der Lehrstück-Ebene stehen – weil es gar nicht anders geht: Vermittelnd und um Verständnis bemüht für alle Seiten, die Verbrechen der Deutschen, von Wehrmacht und SS genauso zeigend wie die Vergewaltigungen der Frauen durch Rotarmisten.

Beide Themen, die Bombardierung von Dresden und anderer deutscher Städte wie auch Flucht und Vertreibung, seien „extrem behaftet, ja tabuisiert“, sagt Hofmann: „Es sind beides Themen, die – wenn man sie falsch anfasst – sehr schnell in Revanchismus münden und Applaus von der falschen Seite bekommen könnten.“

Mit den größtenteils halboffen revanchistisch geprägten „Vertriebenen“-Machwerken – allen voran die Heimatfilme der Fünfzigerjahre wie „Grün ist die Heide“ – hat der Event-Zweiteiler ohnehin nichts gemein. Doch so sehr Hofmann für eine „differenzierte Betrachtung“ plädiert, wo es um Deutsche als Opfer geht, kann „Die Flucht“ auch nur eine solche sehr breit aufgestellte, allgemeine Differenzierung leisten. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das ist nicht eben wenig. Und doch bleibt nach dem Film ein schales Gefühl zurück. Vielleicht allein schon deshalb, weil die Ikonografie sich so eng ans Dokumentarische anlehnt: Die farbigen Film-Trecks über das Eis des zugefrorenen Haffs, weil der Vorstoß der Befreier (!?) den Landweg bereits abgeschnitten hat, wirken wie minutiöse Rekonstruktionen der aus den vielen Dokumentarfilmen verbürgten zeitgenössischen Schwarzweißaufnahmen. Bei allem Leid wirkt das für den heutigen, nachgeborenen Betrachter alles seltsam fern.

Hofmann ist jetzt 47, die Auseinandersetzung mit der jüngeren deutschen Vergangenheit hat ihn stets beschäftigt. Inhaltlich ist „Die Flucht“ vielleicht sogar eine konsequente Fortsetzung seines Filmschaffens, das 1985 mit „Der Tod meines Va- ters“ begann: Hofmanns Debütfilm schildert aus der Sicht eines 18-Jährigen, dessen Vater eben gefallen ist, den Zweiten Weltkrieg auf sehr, sehr nahe, berührende Weise. Heute sagt Hofmann, er finde es wichtig, „dass die Deutschen mit ihrer Geschichten wieder einen anderen Umgang pflegen“, nicht „gebrochen mit einer gebrochenen Geschichte“ umgehen: „Hier muss es eine Annäherung geben.“

Applaus von der falschen Seite dürfte es bei der „Flucht“ ohnehin kaum geben. Aber vielleicht doch eine gewisse Gleichgültigkeit beim Publikum. Für die gewünschte Annäherung sorgt die ARD außerdem noch auf ihre ganz eigene Art: „Flucht und Vertreibung“ sind am Sonntag auch Thema bei „Sabine Christiansen“.

„Die Flucht“: Teil 1, Sonntag, 20.15 Uhr, Teil 2, Montag, 20.15 Uhr; dazu die Dokus „Die Flucht der Frauen“, Sonntag, 23 Uhr, sowie „Hitlers letzte Opfer“, Montag, 21.45 Uhr, alle ARD