Himmelweiter Wahnsinn

VON NICK REIMER

Die Deutschen sind Reiseweltmeister. Nicht einmal die US-Amerikaner geben annähernd so viel für Urlaub aus – obwohl sie mit 300 Millionen Einwohnern dreieinhalbmal mehr sind als die Bundesdeutschen. Eine Analyse der Dresdner Bank urteilt: „Die Deutschen ließen sich auch im Jahr 2006 nicht von Terroranschlägen oder der Vogelgrippe von einer Auslandsreise abhalten.“

Voraussichtlich werden die Deutschen in diesem Jahr 62 Milliarden Euro fürs Reisen hinblättern. Und es gibt kaum Argumente, die gegen diese Prognose sprechen. Easyjet, „Europas führender Günstigflieger“ (Eigenwerbung), meldete gerade einen Passagierzuwachs von 9,8 Prozent. Und Hans-Peter Muntzke, Tourismusexperte der Dresdner Bank, der die Auftragslage der Branche analysiert hat, urteilt: „2007 werden unverändert Fernreisen nach Asien gefragt sein“.

Steuerfreier Klimakiller

Nirgendwo wird die Zukunft der Menschheit radikaler entschieden als am Himmel: Fliegen ist die klimakillendste aller Fortbewegungsarten. Einmal München–Moskau und zurück verursacht pro Fluggast eine Tonne Kohlendioxid. Das ist umgerechnet genauso viel, wie ein Pkw ausstößt, der voll besetzt 13-mal von München nach Moskau und zurückfährt.

Die Klimabelastung eines Flugzeugs ist fünfmal größer als die eines ICE. Im Vergleich mit den Kundenzahlen der Bahn explodieren die der Luftbranche aber geradezu. Seit dem Kioto-Basisjahr 1990 nahmen die Flugbewegungen jedes Jahr um 5 Prozent zu. Ende der 90er-Jahre verursachte der Flugverkehr noch 3,5 Prozent des weltweiten Treibhausgases. Heute sind es schon 9 Prozent.

AirBerlin bietet die Strecke Hamburg–München zum selben Preis wie Düsseldorf–London oder Berlin–Mailand an: für 29 Euro. Das Buch „City-Trips mit Billigfliegern“ stellt die interessante Frage: „Wie können es sich Fluglinien leisten, solche Preise anzubieten und gleichzeitig profitabel zu arbeiten?“ Eine Antwort der Autoren: „Billigflieger haben eine andere Routenstruktur, das heißt, sie fliegen vornehmlich profitable Ziele an.“

„Europaweit zum Taxipreis“ (Werbespruch von Hapag-Lloyd) geht aber auch nur, weil Benzin fürs Taxi besteuert wird, Benzin für Flugzeuge dagegen nicht. „Billig in ganz Europa“ (ryanair) funktioniert nur, weil auf Bahntickets Mehrwertsteuer erhoben wird. Flugtickets sind grenzüberschreitend steuerfrei. Billiger nach Stuttgart zu fliegen rechnet sich nur, weil die Antriebsenergie für einen ICE in den Emissionshandel einbezogen ist, diejenige für ein Flugzeug dagegen nicht. Und anders als bei Bussen, Zügen oder U-Bahnen ist im „Ökomusterland“ Deutschland der Flugverkehr als Klimakiller Nr. 1 von der Ökosteuer befreit. Insgesamt gehen dem Finanzminister so 5 Milliarden Euro verloren – und zwar jedes Jahr.

Lkw der Lüfte

„Fliegen muss teurer werden.“ Dieser Satz stammt nicht etwa von einem Klimaschützer. Dieser Satz stammt von Angela Merkel. 1995 hatte die damalige Bundesumweltministerin in einem Interview mit Bild erklärt: „Wir machen das Auto zum Umwelt-Buhmann und vergessen die katastrophalen Auswirkungen durch den zunehmenden Luftverkehr.“ Helmut Kohl, so erzählt das Umfeld der Kanzlerin heute gerne, habe prompt zum Telefon gegriffen, um „sein Mädchen“ zurückzupfeifen.

„Das Klima hat sich geändert“, urteilt Jos Dings von der European Federation for Transport and Enviroment. Dieser Dachverband von 42 Verkehrs- und Umwelt-NGOs beobachtet in Brüssel die EU-Politik. Jos Dings: „Augenscheinlich ist sich die gesamte EU-Kommission einig, dass der Flugverkehr einen Beitrag zum Klimaschutz leisten muss.“ Umweltkommissar Stavros Dimas hatte im Dezember 2006 einen Plan zur Einbeziehung der Airlines in den Emissionshandel vorgelegt. Seitdem gibt es viele gute Worte. „Auch die Luftverkehrsbranche muss ihren Beitrag für den Klimaschutz leisten“, fordert Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD). Passiert ist noch nichts. Selbst wenn es wider Erwarten zum Emissionshandel für Airlines kommt: Am himmelweiten Wahnsinn ändert das nichts. Experten schätzen, dass ein Flugticket gerade mal zwischen 2 und 6 Euro teurer würde. Abhalten wird das vom Fliegen niemand.

Längst ist das Flugzeug zum Lkw der Lüfte geworden. „Das Frachtvolumen befindet sich im zielstrebigen Steigflug“, vermeldet stolz Frankfurts Flughafen. „Ein in jeder Hinsicht zukunftsorientiertes Flughafenkonzept, herausragende Standortbedingungen, innovatives Handling und bedarfsgerechte Flugfrequenzen sind nur Beispiele für den stetig wachsenden Erfolg“, prahlen die Frankfurter. Mit 1.839.024 Tonnen, die hier 2004 umgesetzt wurden, ist der Rhein-Main-Airport Europas größter Luftfrachthafen. Eine Steigerung von 10 Prozent jährlich gilt als normal.

Zuschlag fürs Kochen mit Sonne

Die Kohlendioxid-Ausgleich-Agentur Atmosfair erlebt gerade eine ungeahnte Karriere. 2003 von der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch und dem Reiseverband forum anders reisen gegründet, fristete die Agentur zunächst ein kärgliches Dasein. Obwohl die Idee überzeugend ist: Atmosfair offeriert ein klimafreundlicheres Fliegen. Im Internet kann man die Emissionen berechnen lassen, die der Urlaubsflug verursacht. Die Seite verrät auch, wie man die Sache wiedergutmachen kann: Wer etwa von Berlin nach Malaga fliegt, zahlt 23 Euro. „Diese Summe investieren wir in Klimaschutzprojekte. Sie sorgt dafür, dass jenes Kohlendioxid, dass der Flugpassagier durch seine Reise verantwortet, andernorts wieder eingespart wird“, sagt Dietrich Brockhagen, Geschäftsführer von Atmosfair. Allerdings nicht die ganze Summe, 20 Prozent Verwaltungsaufwand behält die gemeinnützige GmbH. Etwa 7.000 Flüge seien 2005 so klimafreundlicher geworden.

Atmosfair investiert zum Beispiel in Indien: Tausende Pilger kommen täglich nach Sringeri Mutt, einem der bedeutendsten hinduistischen Wallfahrtsorte an der Westküste. „Die Mahlzeiten für die Pilger wurden dort bisher mit Hilfe von Dieselbrennern zubereitet“, erklärt Brockhagen. Das bei Atmosfair eingezahlte Geld sorgt nun dafür, dass statt mit Diesel mit Sonne gekocht wird. „Es gibt Messeinrichtungen, die aussagen, wie viel Energie die Solaranlage produziert hat“, erläutert Brockhagen. Danach wird die Dieselmenge ermittelt, die zur gleichen Energiebereitstellung notwendig wäre. Und welche Menge Kohlendioxid die Verbrennung des Diesels zur Folge gehabt hätte. Pro eingesparter Tonne Kohlendioxid erhält das indische Projekt 15 Euro. Die Solarküchen sollen bis 2012 insgesamt 4.000 Tonnen CO2 einsparen. So viel entsteht bei 8 Millionen Flugkilometern – oder knapp 4.000 Flügen Berlin–Malaga.

Die „zweitbeste“ Lösung

Auf Website und Flyer empfiehlt Atmosfair sich selbst nur als „zweitbeste“ Lösung. Doch trotz dieser Antiwerbung verzeichnete Atmosfair zuletzt beachtlichen Erfolg. Seit Bundestagsabgeordnete, Unternehmen und Talkshows den Klimaschutz als Thema erkannten, gehören nicht nur renommierte Reisebüroketten zum Kundenstamm von Atmosfair, sondern auch Großunternehmen, Ministerien, die bündnisgrüne Bundestagsfraktion. Die freiwillige Kohlendioxidabgabe birgt eine echte Gefahr: Sie legitimiert und normalisiert umweltschädigendes Verhalten. Wirklich entlasten würde der Reisende das Klima nur, wenn er Klimaschutzprojekte finanziell unterstützt – und trotzdem nicht ins Flugzeug steigt.

Es wird aber weiter kräftig geflogen: Für ihren Mobilitätsbericht befragte die Deutsche Flugsicherung repräsentativ rund 2.000 Bundesbürger. Ergebnis: „Das Flugzeug hat ein positives Image. Für seine Schnelligkeit und für sein Personal erhält es Bestnoten. Außerdem wird es als sicher, zuverlässig, sauber und bequem beurteilt.“ Nur jeder achte Befragte gab an, in aller Regel Busse und Bahnen zu nutzen. Bei gleichen Fahrtkosten würden für eine 300-Kilometer-Reise die Hälfte der Befragten das Auto nehmen, die andere Hälfte lieber das Flugzeug.