Die letzte Hoffnung

Ein Episodenfilm als Erweckungsfantasie. Emilio Estevez’ „Bobby“ begreift Robert Kennedy als Vorbild für die US-amerikanische Gegenwart

Bedeutungsschwer schließt „Bobby“ mit der Rede, die Robert Kennedy nach Martin Luther Kings Ermordung hielt

von ANDREAS BUSCHE

In Arthur Penns herrlich depressivem NeoNoir-Krimi „Night Moves“ spricht Gene Hackman einen der zentralen Sätze der New-Hollywood-Ära aus. Auf Jennifer Warrens Frage, wo er sich befand, als Kennedy ermordet wurde, antwortet Hackman trocken mit einer Gegenfrage: „Welcher Kennedy?“ Arthur Penn hat später oft erzählt, dass dies für ihn der Schlüsselsatz seines Films gewesen sei. Der traumatische Subtext der Sechzigerjahre, der bis weit in die Siebziger lappen sollte, steckte in der Erkenntnis, dass Amerika innerhalb weniger Jahre um zwei seiner weißen Hoffnungsträger gebracht worden war. Irgendwann im Film sagt Warren noch wie zur Bestätigung, dass es eine einfache Frage sei, weil jeder wisse, wo er sich befand, als die beiden Kennedys ermordet wurden. Das nationale Trauma hatte sich tief in das kollektive Erinnerungsgewebe gefressen. Es stiftete eine Art negativer Identität. Um daraus wieder ein positives Selbstbild zu generieren, war es erst nötig, sich an den Ursprung des Traumas zurückzubegeben.

Etwas Ähnliches versucht Emilio Estevez mit seinem Film „Bobby“, einer fiktiven Chronik der Ereignisse im Hotel Ambassador am 4. Juni 1968, wo Robert F. Kennedy kurz nach Mitternacht von dem Palästinenser Sirhan Bishara Sirhan erschossen wurde. Estevez’ Projekt ist ambitioniert: „Bobby“ verknüpft die Geschichten von knapp zwei Dutzend Figuren, die sich an dem schicksalhaften Tag in diesem Hotel eingefunden haben. Es ist der Tag der kalifornischen Vorwahlen; im Hotel bereitet sich alles auf die demokratische Wahlparty vor. Sollte es Kennedy gelingen, seinem Konkurrenten Eugene McCarthy diesen entscheidenden Staat abzunehmen, stände seiner Präsidentschaftskandidatur gegen Nixon nichts mehr im Weg.

So wie Estevez den Film inszeniert, läuft alles auf einen Showdown hinaus. Erst zwei Monate zuvor war Martin Luther King in Memphis erschossen worden. Daher ist Kennedy auch gleich zu Beginn in Archivfilmen zu sehen, umjubelt von afroamerikanischen Anhängern. Estevez entwirft mit einfachen filmischen Mitteln den 4. Juni 1968 als bedeutenden Scheidepunkt in der amerikanischen Nachkriegsgeschichte. Der empathische Kennedy als letzte Hoffnung für die innere Befriedung einer zerrissenen Nation. Nur wissen wir bereits, dass „Bobby“ nicht den Konventionen des Thrillers folgen wird, sondern der Dramaturgie des Katastrophenfilms.

Und wie im klassischen Katastrophenfilm lösen sich auch in „Bobby“ die Stars im Minutentakt ab. Drei Schauspielergenerationen im Dienste einer grandios überfrachteten, liberalen Erweckungsfantasie. Sharon Stone spielt die Betreiberin des hoteleigenen Schönheitssalons, die mit dem Hotelmanager (William H. Macy) verheiratet ist. Der wiederum hat eine Affäre mit einer Telefonistin (Heather Graham). Im Foyer spielen zwei Senioren (Anthony Hopkins und Harry Belafonte) Schach und plaudern dabei über alte Zeiten. Einmal schaut Estevez selbst auf einen Sprung vorbei; er spielt den Ehemann des ehemaligen Showstars Virginia Fallon (Demi Moore), die im Rahmen der großen Kennedy-Gala auftreten wird. Und wo Demi Moore auftaucht, ist Ashton Kutcher natürlich nicht weit. In „Bobby“ spielt er einen Hippie, der von seiner Hotelsuite aus Drogen vertickt.

Zu diesen seifenopernhaften Handlungssträngen gesellen sich weitere, die das politische Gewissen des Films veranschaulichen sollen. Eine junge Frau (Lindsay Lohan) will am Wahltag im Hotel Ambassador ihren Klassenkameraden (Elijah Wood) heiraten, um ihn vor einem Einsatz in Vietnam zu bewahren. Solange ihr nicht jemand mit etwas Kompetenz erkläre, erklärt sie im Schönheitssalon, was die USA da drüben eigentlich genau macht, halte sie ihre Entscheidung für die einzig richtige. Währenddessen entspinnt sich eine lebhafte Diskussion zwischen dem mexikanischen Küchenpersonal (Jacob Vargas, Freddy Rodriguez) und dem schwarzen Koch (Laurence Fishburne) über die Unterdrückung ethnischer Minderheiten und Selbstermächtigung. Der rassistische Küchenchef, gespielt von Christian Slater, hat seinen Mitarbeitern eine Doppelschicht aufgedrückt, sodass sie zur Wahl nicht ihre Stimme (für Kennedy, natürlich) abgeben können. Und ein junger Wahlhelfer (Nick Cannon), ein „angry young brother“, wie ihn eine schwarze Telefonistin nennt, sieht sich auf einer Woge des Enthusiasmus für Kennedys Kampagne davongetragen. Am Ende der Nacht wird er wütend mit Stühlen um sich schmeißen.

In 50 Jahren wird man sich „Bobby“ ansehen und ein unschätzbares Zeitdokument entdecken – nicht der Sechziger, sondern der ersten Jahre des 21. Jahrhunderts. „Bobby“ ist aus mehreren Gründen phänomenal. Einerseits scheint Estevez’ Film mit seinem larmoyanten Pathos und seiner tief empfundenen Sehnsucht nach einer besseren Vergangenheit vollkommen aus seiner Zeit herausgefallen; gleichzeitig hat kein Hollywood-Film es bisher geschafft, eine so treffende Psychotopografie des gegenwärtigen liberalen Amerikas zu entwerfen. Das letzte Mal ist dies in ähnlicher Weise Robert Altman mit „Nashville“ gelungen. Die offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen „Bobby“ und „Nashville“ kommen also nicht von ungefähr (auch Altmans Film war von den Attentaten der Sechziger Jahre gezeichnet), und trotzdem könnten die beiden Filme kaum verschiedener sein.

Wie „Nashville“ dreht sich auch „Bobby“ um ein Politikerattentat. Estevez allerdings beabsichtigt das Gegenteil von Altman. Wo der für die amerikanischen Institutionen (Politik, Familie, Country Music) bloß noch Verachtung übrig hat, versucht „Bobby“ ein starkes Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Hier kommt Estevez sein Schauspieler-Ensemble zugute, das er als schicksalsträchtigen Kollektivkörper in Stellung bringt. Während „Nashville“ in eine Revue von prominenten Cameo-Auftritten zerfällt, schafft Estevez eine dramatische Geschlossenheit. Ihm liegt nicht so sehr daran, die Beschädigungen bloßzulegen; „Bobby“ will lieber einen Moment der Hoffnung konservieren. Estevez will eine kollektive Erfahrung nachstellen, die als Inspiration für die derzeitigen politischen Verhältnisse herhalten soll.

Zwei Fragen drängen sich jedoch auf: Warum ist „Bobby“ trotz dieser hehren Ansprüche kein besserer Film geworden? Und wieso wird heute ausgerechnet Robert Kennedy wieder als große Vorbildfigur beschworen? Estevez’ Hauptproblem ist das Drehbuch, das sich nicht von typischen Sechzigerjahre-Klischees lösen kann und sich in zu vielen belanglosen Nebenhandlungen verliert. So berühren nur drei der vielen Episoden den programmatischen Kern von „Bobby“: die um die Hochzeit, durch die die Einberufung nach Vietnam verhindert wird, die um den rassistischen Küchenchef und die um den in seinen Hoffnungen enttäuschten afroamerikanischen Wahlhelfer. Zwischen Binnendramatik und äußerer Spannung herrscht ein eklatantes Missverhältnis.

Der Handlungsfaden um Martin Sheen und Helen Hunt als neureiches, liberales Ehepaar ist in diesem Zusammenhang bezeichnend. Ihre Ehegeschichte kommt nicht über Soap-Klischees hinaus, aber Sheens Partizipation ist durchaus interessant. In der Vergangenheit hat er selbst sowohl John als auch Robert Kennedy dargestellt: Ersteren in der Miniserie „Kennedy – The Presidential Years“ (1983), Letzteren in „The Missiles of October“ (1974). In der Fernsehserie „The West Wing“ verkörperte er schließlich den liberalen Wunschtraum par excellence: einen amerikanischen Präsidenten, ausgestattet mit Kennedys Idealismus und Clintons Pragmatismus. So stellt „Bobby“ sich indirekt auch in die Tradition einer politischen Idee. Dazu passt, dass Estevez darauf bestand, im echten Hotel Ambassador zu drehen, während Teile des Gebäudes bereits abgerissen wurden. Man spürt die Gespenster der Vergangenheit förmlich durch seinen Film spuken.

Suspekt an „Bobby“ ist, mit welch blindem Eifer Estevez Kennedy auch rückblickend noch in die Rolle des großen Erretters rückt. Der Filmkritiker Jonathan Rosenbaum schrieb über „Bobby“, dass er gegenüber einem Film, der Kennedy als letze Chance für Amerika zu verkaufen versucht, automatisch Vorbehalte entwickeln würde. Kennedys Karriere war nicht so makellos, wie Estevez suggeriert. Gegen die Fortsetzung des Vietnamkrieges – ein zentraler Punkt auf seiner Agenda – hatte er sich öffentlich erst 1967 ausgesprochen. Etwa zum selben Zeitpunkt kam heraus, dass Kennedy während seiner Amtszeit als Justizminister Abhörmaßnahmen gegen Martin Luther King verantwortete.

Das sind Fakten, die „Bobby“ notwendigerweise verschweigt. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet Kennedys historische „Mindless Menace of Violence“-Rede, die er einen Tag nach der Ermordung Kings gehalten hat, Estevez’ Film beschließt. Kennedys Worte erfüllen in „Bobby“ eine wichtige Funktion, weil Estevez über sie die Morde an King und Kennedy in eine Kontinuität der Gewalt stellt, die Kennedy in seiner Rede richtigerweise als institutionalisiert erkannt hatte. (So entsteht auch das Paradoxon, dass Kennedy gewissermaßen seine eigene Grabrede halten muss.) Die deutlichen Worte, die er für den Mord an King findet, erscheinen noch heute als treffliche Analyse der gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse. Unterlegt mit den turbulenten Szenen in der Küche des Hotels Ambassador, Sekunden nach den Schüssen, stellt seine Ansprache an die Nation die Enttäuschung und das Entsetzen der Menschen wieder in einen politischen Zusammenhang. Und plötzlich beginnt man auch ein wenig zu verstehen, warum gerade von Afroamerikanern so viele Hoffnungen auf Kennedy projiziert wurden. Zumindest das darf man „Bobby“ nicht absprechen, egal wie naiv sich Estevez’ Unterfangen darstellt.

Eine ähnliche Projektionsleistung ist momentan in der allgemeinen Euphorie für den Präsidentschaftsanwärter Barack Obama zu beobachten, aus dessen Bekenntnis für ein vereintes Amerika, über alle Parteien-, Armuts- und ethnischen Grenzen hinweg, nicht ganz zufällig der kämpferische Sound aus Kennedys „Mindless Menace of Violence“-Ansprache wieder herauszuhören ist. Kennedys Rede ragt in die Gegenwart, und „Bobby“ bedient ganz ähnliche Sehnsüchte wie sie. Estevez’ ungebrochenes Vertrauen in die politische Kraft einer moralisch lädierten „Schicksalsgemeinschaft“ ist eigentlich schon wieder bewundernswert.

„Bobby“. Regie: Emilio Estevez. Mit Sharon Stone, William H. Macy u. a. USA 2006, 117 Min.