Der Balkanblues im Schwyzerland

„Das Fräulein“ von Andrea Staka erzählt von drei Frauen in der Fremde

Der Spitzname „das Fräulein“ trifft mit hellsichtiger Präzision: Ruza ist zwar lange schon keine junge Frau mehr, doch in den 25 Jahren, in denen die Serbin in der Schweiz gearbeitet hat, hat sie sich selbst mit rigoroser Selbstdisziplin jede Spontaneität und Lebensfreude ausgetrieben. Sie ist zu einer alten Jungfer geworden – das war der Preis für ihren beruflichen Erfolg, denn inzwischen besitzt sie eine Betriebskantine in Zürich, wo die weibliche Bedienung auch heute noch ganz selbstverständlich mit „Fräulein“ angesprochen wird. Eine ihrer Angestellten ist die etwa gleichaltrige Kroatin Mila, die zusammen mit ihrem Mann jeden Franken spart, um sich im kleinen Heimatdorf an der Adria ein kleines Haus zu bauen, das sie sich als ein idyllisches „Zuhause“ für ihre gemeinsamen alten Tage verklären. Die 22-jährige Bosnierin Ana wurde durch ihre Kriegserfahrungen in Sarajewo tief verletzt, und taucht als streunende Reisende in der Kantine von Ruza auf. Als sie dort beginnt zu arbeiten, stört sie die eingefahrene Routine der beiden anderen Frauen empfindlich, sodass sich auch deren Leben in den paar Wochen, in denen der Film sie begleitetet, radikal verändert.

Solch eine Geschichte könnte man als dramatisches Melodram, als hochsensiblen „Frauenfilm“ oder als eine Sozialstudie über die Lebensbedingungen von Arbeitsmigrantinnen inszenieren. Doch Regisseurin Andrea Staka machte daraus einen durch und durch originären, wahrhaftig wirkenden Film, der solch eine hohe Auszeichnung wie den Goldenen Leoparden der Filmfestspiele in Locarno verdient hat. Dies gelingt der 1973 geborenen Filmemacherin in ihrem ersten langen Spielfilm, weil sie hier aus ihren eigenen Lebenserfahrungen schöpft.

Sie ist in der Schweiz geboren und ihre Familie stammt aus Bosnien und Kroatien. So kennt sie dieses seltsame Zwitterdasein jener Entwurzelten, die aus einem anderen Land kommen und nie ganz in ihrer neuen Heimat ankommen, sehr genau. Dies ist ein sehr persönlicher, fast autobiografischer Film, und das spürt man von der ersten Einstellung an. Da stimmt jede Nuance und jedes Detail: Der Blick aus dem Kantinenfenster auf die nebelverhangene Straße hinaus, das Wohnzimmer von Mila, in dem ein riesiger Fernseher wie ein Altar alles andere klein macht, die Scheu der älteren Frauen mit der Jüngeren über die jetzigen Zustände in ihrer alten Heimat zu reden. „Niemand sagt mehr Jugoslawien“, wird Ruza von Ana korrigiert.

Mit zum Teil gewagten Kameraperspektiven, extremen Nahaufnahmen und Unschärfen gelang es der Filmemacherin und ihrem Kameramann Igor Martinovic die Gemütszustände der drei Frauen auf eine subtile, nie vordergründige Weise spürbar zu machen. Die Kamera sieht auch Zürich immer mit einem etwas irritierten, fremden Blick. Man kann und soll sich auch im Film nicht zu sehr zu Hause fühlen, und dennoch schaffen diese Verfremdungseffekte nicht etwa eine Distanz zu den Figuren, sie bringt sie uns paradoxerweise sogar noch näher. Dies liegt wohl auch daran, dass die Protagonistinnen sehr glaubwürdig von den Darstellerinnen verkörpert werden. Das ist um so erstaunlicher, weil alle drei in ihren Heimatländern bekannte Stars sind, und kein Deutsch (und erst recht kein Schwyzerdütsch) sprechen können, also alle deutschen Worte phonetisch lernen mussten. „Das Fräulein“ läuft in der Veranstaltungsreihe über Arbeit „Work in Progress“, die zwischen März und Mai im Bremer Kino 46 sowie den Kinos am Raschplatz und im Sprengel in Hannover veranstaltet wird. Wilfried Hippen