Angst schlägt Ästhetik

Tempolimit, Rauchverbot, Ernährung: Warum muss in Deutschland immer erst die Apokalypse beschworen werden, bevor man den Standards der Zivilisation zum Durchbruch verhelfen kann?

VON RALPH BOLLMANN

Nicht immer zeitigen die richtigen Absichten die falschen Folgen, manchmal geschieht zum Glück auch aus dem falschen Grund das Richtige. So wird nun endlich das fehlende Tempolimit auf deutschen Autobahnen zum politischen Skandal – aber keineswegs aus dem nahe liegenden Grund zivilisatorischer Rücksichtnahme, sondern erst mit dem scheinbar objektiven Zahlenmaterial zum Klimawandel als argumentativer Waffe.

Nicht dass der Klimaschutz kein ehrenwertes Ziel wäre. Aber es ist bezeichnend für dieses Land, dass Ängste und apokalyptische Szenarien, am besten verbunden mit technologisch Messbarem, mehr zählen als Ästhetik und Kultur.

Wer Deutschland schon einmal mit dem Kraftfahrzeug verlassen hat, ganz gleich in welcher Richtung, der weiß: Kaum ist das blaue Grenzschild mit den zwölf goldenen Sternen überwunden, schon wandelt sich das Fahrgefühl komplett. Auf einmal bedeutet es kein Wagnis mehr, auf die linke Fahrspur auszuscheren, kommt keine teutonische Limousine im Raketentempo angerast, um mit blinkenden Scheinwerfern die Vorfahrt zu erzwingen. Nein: Alles gleitet sanft dahin, ein Fahrgefühl, als wäre der eigene Kleinwagen schon ein Rolls-Royce.

Solche Argumente gelten hierzulande nichts. Dagegen wird stets ein verquerer Begriff von „Freiheit“ ins Spiel gebracht – einer Freiheit, die vorzugsweise der strukturell Stärkere gegen den strukturell Schwächeren in Anspruch nimmt. Besonders kurios gerät die Debatte in den Fällen, in denen es mehr Schwache gibt als Starke. Dann wird ein verquerer Begriff von Minderheitenschutz ins Feld geführt: Die Masse der Kleinwagenbesitzer wird doch nicht etwa den Angehörigen der automobilen S-Klasse die freie Fahrt missgönnen, womöglich aus Sozialneid? Vergessen wird dabei gern, dass sich der „Schutz“ von Minderheiten – wie der Begriff schon sagt – weniger an ihrer puren Zahl zu orientieren hat als an ihrer Schutzbedürftigkeit. Anders wäre beispielsweise die Existenz von Sonderprogrammen, die der weiblichen Bevölkerungsmehrheit zugute kommen, gar nicht zu rechtfertigen.

Aber das Gebot der Rücksichtnahme, Grundlage jeder Kultur und Zivilisation, zählt hierzulande wenig. Das gilt fürs Tempolimit ebenso wie für das Rauchverbot. Auch beim Kneipenqualm kommt man mit dem Argument nicht weit, man wolle das Essen schmecken können und die Lokalität hernach nicht als Stinktier verlassen müssen. Nein: Nur mit abschreckenden Fotos von Lungentumoren und verkalkten Herzgefäßen lässt sich der zähe Widerstand der Raucherlobby überwinden – mit einer Ekelkampagne also, die den ästhetischen Zweck der Anti-Rauch-Initiativen in sein Gegenteil verkehrt.

Es erscheint auf den ersten Blick verwirrend, dass ausgerechnet das regelungswütige Deutschland in wichtigen Fragen der Alltagskultur so anarchisch strukturiert ist, dass es sich beim Tempolimit wie beim Rauchverbot europäischen Standards so hartnäckig widersetzt. In Wahrheit folgt aber das eine aus dem anderen. Gerade weil Deutschland im Grunde immer eines der anarchischsten und unzivilisiertesten Länder Europas geblieben ist, hat sich das Bedürfnis nach Gesetz und Obrigkeit – und übrigens auch nach Hochkultur – hierzulande so hartnäckig gehalten. Am hartnäckigsten bezeichnenderweise in der bis heute am wenigsten zivilisierten Region, im preußischen Ostelbien.

Der Kabarettist Gerhard Polt beklagte sich einmal im taz-Interview, hierzulande serviere ihm allein „der Ausländer“ zu jeder Tages- und Nachtzeit ein warmes Essen. Der Witz ist nur: Bei sich zu Hause würde der Italiener gerade das nicht tun. Weil ihm die Einnahme einer Mahlzeit nicht als physiologische Verrichtung gilt, sondern als Akt der Zivilisation – gemeinsam, zu einer bestimmten Uhrzeit, mit Respekt vor dem Koch oder der Köchin. Unzivilisiert ist nicht der deutsche Wirt, der Herrn Polt um 16 Uhr kein Mittagessen serviert. Unzivilisiert ist Herr Polt, der offenbar erwartet, dass unterbezahlte Hilfskräfte jederzeit bereitstehen, damit er im einsamen Gastraum seine Sättigungsbeilage herunterschlingen kann.

Auch beim Essen sind es wiederum obskure Ängste und die scheinbar objektiven Erkenntnisse der Wissenschaft, die der deutschen Maßlosigkeit Grenzen setzen. Eine üppige Mahlzeit abends um zehn? Gott bewahre, davon wird man erstens dick und bekommt zweitens Speiseröhrenkrebs – zwei Phänomene, die im Süden keineswegs weiter verbreitet sind als in Deutschland.