Senkrechtstarter des Regietheaters

In ihren Inszenierungen wagen sich die beiden Regisseure weit vor, riskieren etwas, auch auf die Gefahr hin, eine Schlappe zu erleiden: Trotzdem wollen David Bösch und Roger Vontobel lieber von der älteren Generation lernen, als sich gegen sie aufzulehnen. Den Druck sich abzugrenzen kennen sie nicht

ROGER VONTOBEL, geboren 1977, studierte Regie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. „[fi’lo:tas]“, eine seiner ersten Arbeiten, führte Lessings Philotas mit der Biografie des US-Taliban John Walker Lindh zusammen. Vontobel ist Hausregisseur in Essen („Das goldene Vliess“, „Schlafengehn“) und am Schauspielhaus Hamburg („Spieltrieb“). Neben Friedrich Schirmer gehört Frank Baumbauer zu seinen Förderern. An den Münchner Kammerspielen läuft „Monsun“, Premiere „Familie Schroffenstein“ dort am 27. April. FOTO: DIANA KÜSTER/SCHAUSPIEL ESSEN

VON SIMONE KAEMPF

Fünf Minuten Fußweg trennen den Essener Hauptbahnhof vom Theater. Dazwischen liegen Welten. In einer Seitenstraße der Fußgängerzone, umzingelt von 50er-Jahre-Architektur, sticht plötzlich die Renaissance-rosa Fassade des Grillo-Theaters hervor. Vor dem Eingang wachsen wie auf einer italienischen Piazza Zypressen, die der letzte Intendant anpflanzen ließ. Aus seiner Zeit stammt auch das ergraute Abonnentenpublikum. Der neue Leiter Anselm Weber hat vor allem Jugendliche dazu gewonnen. Gemeinsam mit den Alten bilden sie das Publikum und spiegeln im Zuschauerraum die Brüche der Stadt, die ihre Position im postindustriellen Strukturwandel sucht und dabei doch optimistische Aufbruchstimmung ausstrahlt.

Will man etwas von Roger Vontobel und David Bösch sehen, landet man irgendwann in Essen. Und wahrscheinlich kommt die aufmischende wie vermittelnde Qualität ihrer Arbeit vor dem Hintergrund der Stadt am besten zur Geltung. David Bösch hat in seiner Inszenierung des „Sommernachtstraums“ radikal zugegriffen. Aber Textkundige finden sich in der Sprach-Zauberwelt genauso wieder, wie sich Teenager mit der zentralen Figur Puck identifizieren: einem Pummel in Latzhose, mit ungelöster sexueller Identität und Freunden, die aus Horrorvideos stammen.

Ausgrenzung

Und manchmal zieht sich auf der Bühne auch eine Jahrtausenddistanz auf nachvollziehbare Gefühle zusammen: Ausgrenzung zum Beispiel. In Roger Vontobels Inszenierung von Grillparzers „Das Goldene Vliess“ bleibt Medea eine Fremde, wohin sie auch flieht. In der eindringlichsten Szene des Abends stopft sie ihre Kleidung in einen Müllsack, als könne sie sich ihrer Herkunft entledigen. Weil es ihm gelungen sei, „die Gefühle von damals mit unseren Gefühlen heute in Einklang zu bringen“, so die Begründung, wird Vontobel am kommenden Samstag von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste den kleinen Eysoldt-Ring zur Förderung junger Regisseure verliehen bekommen.

David Bösch und Roger Vontobel, beide 29 Jahre alt, betreiben am Grillo-Theater Arbeitsteilung. Böschs Arbeiten zielen mehr aufs Herz, Vontobels auf den Kopf. In der Kritikerumfrage von Theater heute wurde er 2006 zum Nachwuchsregisseur des Jahres gewählt. Publikumsliebling Bösch, hat dagegen in Salzburg den Young Directors Award gewonnen. Essen dient als „Homebase“ (Bösch) und als „Raum, der geschützter sei“ als anderswo. Längst inszenieren die Senkrechtstarter auch an ersten Häusern in München, Zürich oder Hamburg, wo Vontobel offiziell Hausregisseur am Deutschen Schauspielhaus ist. Die beiden sind ohne Zweifel die erste Garde der Regie-Altersklasse um die dreißig. Dennoch fällt ihr Name regelmäßig, wenn davon die Rede ist, dass die nachwachsende Generation zu schnell hochgekommen sei, dass sie zwar handwerklich versiert arbeite, aber ansonsten ohne künstlerische Visionen sei.

An ihren eigenen Inszenierungen kann es nicht allein liegen, dass die beiden Regisseure in die verschobenen Fronten einer Lagerdebatte geraten sind. Als Regisseure wagen sie sich weit vor, riskieren etwas, auch auf die Gefahr hin, eine Schlappe zu erleiden. Doch jede misslungene Arbeit, egal von wem, leistet eben jenen Gerüchten Vorschub, die sich seit dem ersten “Radikal jung“-Festival am Volkstheater München vor zwei Jahren hartnäckig halten: nicht radikal genug zu sein. Statt dagegen zu protestieren, schlüpften einige trotzig in diese zugeschobene Rolle. Und seitdem irritiert, ja fast provoziert auch David Bösch mit Äußerungen über seinen unbefangenen Umgang mit Tradition.

Qualitätsbegriffe

Von älteren Regisseuren will er lieber lernen, statt sich gegen sie aufzulehnen. Emotionalität und Spielfreude sind ihm schützenswerte Qualitätsbegriffe. Beide Regisseure spüren keinen Druck, sich von der Vorgängergeneration abzugrenzen. Vielleicht weil sie erste prägende Erfahrungen in ganz anderen Kreisen gesammelt haben. Als in den 90er-Jahren mit Pop-Theater und postdramatischen Formen experimentiert wurde, verbrachte Bösch ein Jahr in Israel und betreute einen alten deutsch-jüdischen Schauspieler. Seitdem sind George Tabori und Luc Bondy seine Vorbilder, „ihrer Menschlichkeit wegen“, und weil Bösch die Gegensätze von Tragik und Komik mag. Kaum ein Text über Bösch, der sich darüber nicht halb verwundert zeigt, und kaum einer, der seine verwuschelte Frisur unerwähnt lässt. Der Haarschopf erinnert ein wenig an Christoph Schlingensief. Grund genug, sich mit ihm den ungezogenen Provokateur herbeizusehnen, der das Theater mal wieder so richtig in Aufruhr bringt.

Abgrenzung? Darüber funktioniert auch Roger Vontobel nicht. „So bin ich nicht aufgewachsen. In der Hinsicht bin ich Ur-Schweizer.“ Eine Ausnahme macht er: Vontobel war nach dem Abitur zum Schauspielstudium in die USA gegangen und durchlitt als Schauspieler ein unbefriedigendes Jahr in einem Theater in der Nähe von Los Angeles. Reflektierte Rollenaneignungen waren im unterhaltungslastigen System nicht notwendig, gar unerwünscht. Erfahrungen, aufgrund derer Vontobel die Arbeitsweise des „Suchens“ und „Heranarbeitens“ heute besonders schätzt.

Vontobel ist in der Schweiz geboren, aber in Südafrika aufgewachsen. Nach der Zwischenstation in Amerika begann er im Sommer 2001 das Regiestudium in Hamburg – wenige Wochen vor dem 11. September, der ihm zum richtungsweisenden Erlebnis wird. „Komischerweise war ich vorher sehr unpolitisch. Die Anschläge, so zwiespältig das im Nachhinein auch sein mag, haben mich extrem interessiert gemacht. Das war der Beginn, auch auf der Bühne in anderen Zusammenhängen zu denken.“ Das mag vielleicht nicht radikal genug klingen, gesellschaftlich relevant ist es auf jeden Fall.

DAVID BÖSCH, 1978 geboren, studierte Schauspielregie an der Hochschule Musik und Theater Zürich. Noch in Zürich entstand „Leonce und Lena“, mit der er erstmals Aufmerksamkeit erzeugte. In Essen inszenierte er „Sommernachtstraum“ und „Das Käthchen von Heilbronn“. Nächste Premiere dort: „Liliom“ am 17. März. Regelmäßige Arbeit auch am Thalia Theater Hamburg, zuletzt „Viel Lärm um Nichts“ und „Clavigo“, Ulrich Khuon gehört zu seinen frühen Förderern. Am Schauspielhaus Zürich folgt im Mai „Kabale und Liebe“. FOTO: HENG WITTINGHOFER/SCHAUSPIEL ESSEN

Ein Gedanke taucht wiedererkennbar in seinen Inszenierungen auf: dass Konflikte und Krisenherde am Laufen gehalten werden müssen, damit die Gesellschaft nicht zusammenbricht und Gut und Böse überhaupt erlebbar bleiben. Bei Kleists „Familie Schroffenstein“, das er zurzeit in München inszeniert, wird Liebe erst möglich, weil beide Familien verfeindet sind. Und in Grabbes „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“, das in Salzburg in Kooperation mit dem Hamburger Schauspielhaus entstand, lässt Vontobel am Ende den Teufel auftreten. Verirrt im moralischen Koordinatensystem, haben die Figuren – Lüstlinge, Säufer, todessüchtige Poeten – eine autoritäre Instanz dringend nötig, die Großreinemachen hält.

Atmosphäre aufsaugen

Zwar war die Inszenierung Vontobels erster Misserfolg, ein böser Flop sogar. Aber sie zeigte gut seine Arbeitsweise, die in „Spieltrieb“, nach Juli Zehs gleichnamigen Roman, viel besser aufgegangen war: nämlich auf der Bühne wie ein Schwamm Atmosphäre, Erzählperspektiven, Text, Figuren aufzusaugen. Vontobel nennt unter anderem Chris Kondek als Vorbild, besonders die Art und Weise, wie Kondek Videobilder erzählerisch benutzt. Doch selbst, wo Vontobel Musik, Film oder Videokameras einsetzt, bleibt bei ihm eines am Ende viel länger im Gedächtnis: die Schauspieler.

Das wäre noch ein letzter Grund, die beiden für konventionell zu halten. Vontobel und Bösch setzen auf ihre Schauspieler, und zwar radikal. Das ist erstaunlich – und mittlerweile wieder voll auf der Höhe der Zeit. Noch bis vor kurzem waren die alten Sätze völlig aus der Mode: dass der Regisseur von den Almosen der Schauspieler lebe undsoweiterundsofort. Seit das Experimentieren mit medialen Mitteln auf der Bühne ausgereizt wirkt, gewinnt die Allianz mit Schauspielern neu an Bedeutung: als Inspirationsquelle und verlässliche Größe.

Vontobel arbeitet immer wieder mit Jana Schulz. Bösch ist von der Züricher Hochschule zusammen mit drei Schauspielern nach Essen gegangen. Dass sich die Schauspielerin Sarah Viktoria Frick als Puck im „Sommernachtstraum“ am Ende in eine schöne Frau verwandeln darf, sei ein Geschenk an sie, sagt Bösch. Und als Geschenkübergabe inszeniert er es auch: ein Kleid, mit einer Schleife verpackt, schwebt vom Bühnenhimmel, dazu Orchesterklänge und Bombastik. Auch seine Vorliebe fürs Kino und fürs große Happy End spricht daraus. „Man darf die Gefühle nicht dem Kino überlassen“, sagt Bösch. Sein Lieblingsbuch übers Theatermachen? „ ‚Moviemaker’s Master Class‘. Zwanzig Interviews mit Filmregisseuren. Alle sagen etwas anderes, aber alle sind gut und gehen ihren eigenen Weg.“ Man sollte sich nicht täuschen lassen. Bösch und Vontobel versprechen nicht nur, ihren eigenen Weg zu gehen, sie befinden sich schon längst darauf.